|
Münster (upm/sp).
Eine staubige Angelegenheit: Bei Temperaturen von rund 40 Grad säubert ein Student einen Teil des Grabungsfeldes.© WWU - Sophie Pieper
Fotos

Über Staub und Stein

Besuch einer archäologischen Grabung in der Südosttürkei

Jedes Jahr im Sommer sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der WWU-Forschungsstelle Asia Minor für mehrere Wochen im Südosten der Türkei, um die archäologischen Hinterlassenschaften des Ortes Doliche zu erforschen. Sophie Pieper von der Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit hat die Ausgrabung bei einem Besuch vor Ort beobachtet.

4.53 Uhr

Es ist ein leises Knistern der Lautsprecher in dem kleinen Dorf Dülük nahe der syrischen Grenze, das die Nacht beendet. Pünktlich zum Sonnenaufgang schallt der Muezzin über das Land und ruft die Menschen zum Morgengebet auf. Kurze Zeit später startet auch im Grabungshaus des Doliche-Forschungsprojekts der Tag. Bereits um sechs Uhr morgens versammeln sich die rund 25 Studierenden und Wissenschaftler aus Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei im Frühstücksraum. Eine halbe Stunde später fährt ein Teil des Teams los zum Grabungsareal. Dafür steht vor dem Haus ein WWU-Bulli aus Münster bereit, der die Archäologen zum etwa zwei Kilometer entfernten Grabungsfeld bringt. Wie der Bulli aus Münster in das fast 3.800 Kilometer entfernte Dülük gekommen ist? „Jedes Jahr fahren Studierende den Sprinter von Münster in die Türkei. Wir würden gerne ein Auto dauerhaft überführen, doch die Kosten dafür sind in der Türkei leider zu hoch“, erklärt Prof. Dr. Engelbert Winter, der das Forschungsprojekt seit seinen Anfängen im Jahr 1997 leitet. Für die Studierenden hat das Abenteuer Grabungsreise deswegen schon vier Tage eher begonnen: Über Österreich, Italien und Griechenland haben sie das Auto in die Türkei gebracht. Nach dem Ende der Kampagne geht es auf dem gleichen Weg zurück – dann allerdings mit mehr Zeit für Zwischenstopps und Sightseeing.

 

© WWU - Sophie Pieper

Zum Abspielen des Videos wird dieses von einem Webserver der Firma Google™ LLC geladen. Dabei werden Daten an Google™ LLC übertragen.

7.00 Uhr

Pünktlich um sieben Uhr ist Arbeitsbeginn – sowohl auf dem Feld als auch im Grabungshaus. Das Grabungsteam schaut sich zunächst den aktuellen Stand in den sogenannten Schnitten – gemeint sind die einzelnen Ausgrabungsareale – an. Viel Zeit verlieren sie dabei nicht, denn bereits jetzt scheint die Sonne erbarmungslos auf den Keber Tepe, den Hügel, auf dem sich die Überreste der antiken Stadt Doliche befinden. Rund 40 Grad heiß wird es im August und September. Lange Kleidung, Kopfbedeckung und Lichtschutzfaktor 50 sind deswegen Pflicht. Die hohen Temperaturen sind auch der Grund für das Rotationssystem der türkischen Arbeiter, die jedes Jahr die Ausgrabung unterstützen. Etwa 30 Personen kümmern sich um das Abtragen der Schichten in den Schnitten. Weil die Arbeit kräftezehrend ist, teilen sich die Arbeiter in drei Gruppen auf. Eine Gruppe arbeitet mit Spitzhacke und Schaufel, eine zweite kümmert sich mit Schubkarren, Kellen und Sieben um die Durchsicht des ausgehobenen Erdmaterials und dessen Abtransport, während die dritte sich im Schatten erholt. Nach 20 Minuten Feldarbeit lösen sich die Gruppen gegenseitig ab. „Nur durch diese Art der Rotation ist die Arbeit bei der Hitze machbar“, erklärt Grabungsleiter Prof. Dr. Michael Blömer.

Wer auf das Grabungsfeld blickt, muss unweigerlich an ein „Wimmelbild“ denken: Es sind Grabungshelfer zu sehen, die Erdschichten abtragen und Steine transportieren, Wissenschaftler und Studierende, die mit Kelle und Pinsel Schicht für Schicht Erde und feinere Sedimente abtragen und die darunter liegenden Strukturen eines antiken Tempels ans Tageslicht bringen. Andere Mitarbeiter zeichnen die jeweiligen Schnitte, Mauern des Tempels oder einzelne Fundstücke. „Mittlerweile arbeiten wir mit vielen technischen Hilfsmitteln wie Drohnen, 3-D-Scannern oder geophysikalischen Messungen, die uns detaillierte Bilder des Grabungsareals liefern. Trotzdem ist es notwendig, dass wir Zeichnungen von Hand anfertigen, denn selbst mit der besten Technik entstehen Verzerrungen oder Fehler. Zudem sind Details wie die Struktur einzelner Steinformationen auf Fotos nicht immer richtig erkennbar“, erläutert Michael Blömer. Auf dem Feld sind an diesen Aufgaben auch zwei Studierende der Fakultät für Historische Bauforschung an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg beteiligt. Dank ihrer Expertise können alle baulichen Details sachgerecht dokumentiert werden, eine entscheidende Voraussetzung für deren spätere wissenschaftliche Bearbeitung und Deutung im jeweiligen architekturgeschichtlichen Kontext. „Ohne solche Kooperationen funktioniert die Grabung nicht. Wir haben aus unterschiedlichen Fachgebieten und Ländern Expertinnen und Experten, die uns bei der Kampagne unterstützen. Erst im Team können wir das Grabungsareal in seiner ganzen Komplexität erschließen und alle Funde richtig deuten“, betont Engelbert Winter.

Bereits zum Jahresbeginn ist die Projektleitung verpflichtet, der türkischen Antikendirektion eine Liste aller Teilnehmer für die geplante Kampagne im Sommer zu schicken, die Grundlage für die jährlich durch die türkische Antikenverwaltung neu ausgestellte Grabungsgenehmigung ist. „Die enge Kooperation mit den türkischen Behörden bei allen organisatorischen Angelegenheiten bis hin zum Schutz des Grabungsareals ist uns ein wichtiges Anliegen. Ein entsprechendes Vertrauen auf allen Seiten ist die Grundlage für die erfolgreiche gemeinsame Zusammenarbeit über einen so langen Zeitraum“, erzählt Engelbert Winter. Während der Kampagne ist auch ein Vertreter der türkischen Antikendirektion anwesend. Er wohnt die gesamte Zeit mit im Grabungshaus, ist jeden Tag auf dem Grabungsfeld dabei, achtet auf die Einhaltung der in der Türkei für Grabungen geltenden gesetzlichen Bestimmungen und ist bis zum letzten Tag der Grabung, wenn alle Funde in den Depots verschlossen oder an das zuständige Museum übergeben werden, ein wichtiger Ansprechpartner.

Bei der diesjährigen Grabung legte das Team Strukturen eines antiken Tempels frei.<address>© Forschungsstelle Asia Minor</address>
Bei der diesjährigen Grabung legte das Team Strukturen eines antiken Tempels frei.
© Forschungsstelle Asia Minor

12.00 Uhr

In der Mittagspause versammeln sich Arbeiter, Studierende und Wissenschaftler unter einem Zeltdach am Rande des Grabungsfelds und essen gemeinsam. Gesprochen wird eine Mischung aus Türkisch, Englisch, Deutsch, Handzeichen und Sätzen aus dem Google-Translator. Auch das macht eine Grabung aus – Kommunikation zwischen unterschiedlichen Nationalitäten und Kulturen. Nach einer kurzen Erholung geht es weiter. An einem der Schnitte arbeitet der Archäologiestudent Fynn Riepe. Auf den ersten Blick sieht das Feld unspektakulär aus. Auf dem Boden zeigen sich unregelmäßige Steinschichten, bedeckt mit Staub und Erde. Mit einer Kelle trägt er Schicht für Schicht ab. Schnell sieht er – anders als ein Laie – eine Struktur: „Wenn man seitlich auf die Ebenen blickt, wird deutlich, dass es sich hierbei um einen Boden handelt. Die erste unregelmäßige Schicht ist Mörtel, darunter befindet sich Stein.“ Beim Graben verlässt er sich allerdings nicht nur auf seinen Blick. „Archäologen müssen auch ein gutes Gehör haben. Beim Graben klingt Stein anders als Mörtel oder Erde. Diese feinen Unterschiede lernt man im Laufe der Zeit.“

Währenddessen werden im Haus die Funde bearbeitet. Alles, was auf dem Grabungsfeld entdeckt wird – beispielsweise Keramikscherben, Mosaiksteine oder Knochen – gehen durch die Hände von Dr. Eva Strothenke. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Asia Minor schaut sich jeden Fund genau an und entscheidet, was damit passiert. Im ersten Schritt wird alles in einer Datenbank erfasst. Funde aus Keramik oder Glas, bei denen sich noch auf das Ursprungsgefäß schließen lässt, werden gewaschen, getrocknet, gezeichnet und schließlich fotografiert. In diesem Jahr kommt erstmals auch ein sogenannter Laser Aided Profiler zum Einsatz, den sich die an der WWU archäologisch arbeitenden Fächer gemeinsam angeschafft haben und mit dessen Hilfe sich die Dokumentation der Keramik dank modernster Scantechnik effizienter bewerkstelligen lässt. Metallfunde wie Münzen sind durch die lange Lagerung im Boden häufig in einem schlechten Zustand und müssen aufwendig gesäubert werden. In der Restaurierungswerkstatt entfernen die Expertinnen vorsichtig Verschmutzungen und Ablagerungen. „Der Ablauf ist immer gleich in der Fundbearbeitung, aber die Fundstücke sind jedes Mal neu und das macht die Arbeit so spannend“, erklärt Eva Strothenke. „Die Arbeit im Haus ist das Herz der Kampagne. In den gut acht Wochen registrieren und dokumentieren wir hier etwa 50.000 Funde. Das ist vor allem für die wissenschaftliche Bearbeitung und die Publikationen notwendig, die an die Grabung anschließen“, ergänzt Michael Blömer.

In der Restaurationswerkstatt wird eine Münze aufwendig gesäubert.<address>© WWU - Sophie Pieper</address>
In der Restaurationswerkstatt wird eine Münze aufwendig gesäubert.
© WWU - Sophie Pieper

16.00 Uhr

Um 16 Uhr ist Arbeitsschluss am Grabungsort, doch der Tag ist noch nicht zu Ende. Das Team macht sich auf den Rückweg ins Haus. Dort sortieren und beschriften sie noch Fotos oder registrieren Fundstücke. Erst gegen 17 Uhr beginnt der Feierabend. Nach dem Abendessen klingen die Tage meistens auf der Dachterrasse aus. Zweimal in der Woche findet hier die sogenannte „Toplantı“ – das türkische Wort für Treffen – statt. Die einzelnen Teams berichten von ihrer Arbeit, bringen sich gegenseitig auf den aktuellen Stand und planen Aktivitäten für das Wochenende. Am Samstag endet die Arbeit gegen Mittag – danach macht das Team Ausflüge in die Umgebung. Steht keine „Toplantı“ auf dem Programm, werden auf der Terrasse Karten gespielt, Filme über einen Beamer geschaut oder auch nur über die Geschehnisse des Tages geredet – solange, bis irgendwann wieder der Muezzin ertönt und dieses Mal die Nacht einläutet.

Das Projekt:

Altertumswissenschaftler der Forschungsstelle Asia Minor im Seminar für Alte Geschichte der WWU erforschen seit 1997 die antike Stadt Doliche, die am Rande der modernen Metropole Gaziantep im Südosten der Türkei liegt. Doliche war eine Kleinstadt im Norden des antiken Syrien und besaß vor allem als religiöses Zentrum Bedeutung. Der Hauptgott der Stadt – Iuppiter Dolichenus – wurde in weiten Teilen des Römischen Reichs verehrt. Ziel des Projekts ist es, die Entwicklung der Stadt und der Lebenswelt ihrer Bewohner von der hellenistisch-römischen Zeit über die christliche Spätantike bis in die frühislamische Epoche hinein zu erforschen.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 16. November 2022.

Links zu dieser Meldung