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Münster (upm/nor)
Die Missbrauchsstudie des WWU-Forschungsteams für die Jahre 1945 bis 2020 im Bistum Münster.<address>© WWU - Michael Möller</address>
Die Missbrauchsstudie des WWU-Forschungsteams für die Jahre 1945 bis 2020 im Bistum Münster.
© WWU - Michael Möller

Nach Missbrauchsstudie: WWU-Experten sehen wenig Reformwillen

Theologen fordern drastische und glaubhafte Veränderungen

Es kam einem Donnerschlag gleich, als die fünf Wissenschaftler der Universität Münster Mitte Juni ihre Studie über sexuellen Missbrauch im Bistum Münster seit 1945 vorstellten. Mindestens 200 Täter, bis zu 6000 Opfer – die Experten bezeichneten die katholische Kirche als „Täterorganisation“, die sich des Machtmissbrauchs schuldig gemacht habe. Die Ergebnisse sorgten republikweit für Aufsehen und Empörung. Vor diesem Hintergrund wäre es naheliegend, dass die katholische Kirche nicht nur Reue zeigt und sich um Wiedergutmachung bemüht, sondern vor allem Reformen angeht, die eine Wiederholung dieser Verbrechen ausschließen. Doch zahlreiche kundige Beobachter sind skeptisch. „Noch kann ich nicht erkennen, dass unsere Studie jemanden wachgerüttelt hat, ich sehe keinen grundlegenden Aufbruch“, betont Studienleiter Prof. Dr. Thomas Großbölting.

Tatsächlich sieht es so aus, als blieben die Bistümer ihrer bisherigen Linie treu: etwas mehr Geld, weitere Ansprechpartner – aber keine großen Veränderungen. Dabei sind sich alle Experten einig, wo es anzusetzen gilt. „Sexueller und geistlicher Missbrauch ist immer Machtmissbrauch. Deshalb muss die klerikale Macht strukturell begrenzt werden“, meint Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins, Direktorin des Instituts für christliche Sozialwissenschaften der WWU. Die Kirchenoberen müssten Macht abgeben und einer unabhängigen Kontrolle zustimmen – der münstersche Bischof Felix Genn deutete immerhin an, dass er eine neue innerkirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit in seinem Bistum installieren werde, um damit bischöfliche Entscheidungen einer Kontrolle zu unterwerfen. „Zudem gilt es“, ergänzt Marianne Heimbach-Steins, „die Sakralisierung des Priesteramtes zu dekonstruieren; der aus dieser Überhöhung resultierende Klerikalismus an der Basis muss als ein Ermöglichungsfaktor des Missbrauchs überwunden werden.“

Mit Blick auf die Institution, ergänzt Thomas Großbölting, gelte es, den „Kontroll- und Vereinheitlichungszwang der Hierarchie“ zugunsten einer neuen Vision von Kirche aufzugeben. „Muss Kirche“, fragt er, „zwingend als heilige und hierarchische Ordnung gedacht werden, die sich vor allem in einer Befehls- und Gehorsamspraxis realisiert?“ Es sei das Machtgefälle, das Abhängigkeiten schaffe, die Sakralisierung und Dominanz von Personen etabliere; schließlich motiviere es auch zu Vertuschung.

Diese Einschätzung teilt WWU-Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf. „Die Kirche muss das Strukturproblem, das den Missbrauch begünstigt, mit grundlegenden Reformen angehen: Zulassung verheirateter Priester, Weihe von Frauen, Einführung einer unabhängigen kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Wahl der Bischöfe vor Ort statt einer römischen Ernennung, Einführung synodaler Strukturen und die Übergabe der Finanzhoheit an die Laien.“ Die immer gleichen und stetig wiederkehrenden Entschuldigungen der Bischöfe nach der Veröffentlichung eines neuen Gutachtens überzeugten niemanden mehr. „Die Opfer müssen in den Mittelpunkt gestellt werden, und nicht nur in frommen Lippenbekenntnissen. Bischöfe, die Missbrauchstäter gedeckt haben, müssen zurücktreten. Die Täter sollten innerkirchlich und staatlich bestraft werden. In keinem Fall dürfen sie wieder mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.“ Auch unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit dürften Übergriffigkeiten keinesfalls verharmlost oder gar bei Entscheidungen über den weiteren Einsatz im kirchlichen Dienst ignoriert werden, unterstreicht Marianne Heimbach-Steins. „Außerdem ist eine vorbehaltlose Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden unerlässlich.“

Es überwiegt jedoch die Skepsis, ob die katholische Kirche, in der es nach Thomas Großböltings Überzeugung „nach wie vor sehr starke konservative Kräfte gibt“, zu all dem bereit ist. Trotz der „schweren Verletzungen vieler Seelen und Lebenswege“, hebt die WWU-Moraltheologin Prof. Dr. Monika Bobbert hervor, fehle es vielen Verantwortlichen an der, wie es Johann Baptist Metz einst bezeichnete, „Leidempfindlichkeit“ für die Betroffenen. „Es gibt viel Nachholbedarf und die Notwendigkeit, dass sich die reformwilligen Kräfte durchsetzen.“ Hubert Wolf fürchtet allerdings, dass sich der Exodus aus der Kirche fortsetzt. „Wer jetzt die Zeichen der Zeit nicht erkennt, der ist von allen guten Geistern verlassen.“

Autor: Norbert Robers

 

Prof. Dr. Johannes Schnocks<address>© WWU - Benedikt Weischer</address>
Prof. Dr. Johannes Schnocks
© WWU - Benedikt Weischer
INTERVIEW

"Die Kirche braucht Hilfe von außen"

WWU-Theologe Prof. Dr. Johannes Schnocks sprach mit Norbert Robers über Erwartungen an die katholische Kirche nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie über das Bistum Münster.

 

Welche Reaktion der katholischen Kirche halten Sie jetzt für geboten?

In erster Linie das ehrliche und glaubwürdige Eingeständnis von Schuld und ein echtes Interesse an Aufklärung, wo immer sie möglich ist. Dabei geht es immer um die Schuld der individuellen Täter, die diese Verbrechen als Teil der kirchlichen Hierarchie begangen haben, und um ,das System‘, also die Akteure, die durch Verschleierung diese Hierarchie schützen wollten. Beides muss als schlimme Schuld benannt werden, es ist aber nicht dieselbe Art von Schuld.

Kann oder muss es auch um Gerechtigkeit gehen?

Selbstverständlich. Zuerst um Gerechtigkeit für die Betroffenen, um die Anerkennung der Verbrechen, die ihnen angetan wurden, und um Hilfe und Unterstützung. Es geht aber auch um Gerechtigkeit gegenüber den Tätern und Repräsentanten ,des Systems‘ – so abwägend und differenziert in den Sanktionen, wie das auch sonst in einem Rechtsstaat geschieht.

Kann all das überhaupt eine Gemeinschaft leisten, die auf Vertrauen aufbaut und in der Einzelne gerade dieses Vertrauen missbraucht haben?

Die Kirche braucht Hilfe von außen. Es geht auch um Wahrhaftigkeit, wo beispielsweise der ,synodale Weg‘ ansetzt. Was es nicht geben darf, ist eine Kirche, die einerseits theologisch so tut, als habe es diese Katastrophe nicht gegeben, indem sie die institutionelle Heiligkeit gegen ,die Welt‘ betont, und andererseits verleumderische Denunziationen Unschuldiger begünstigt, um als hart aufklärend wahrgenommen zu werden. Beides hätte erneut mit Verschleierung der Realität und mit Lüge zu tun.

 

Dieser Beitrag stammt aus der Unizeitung Nr. 5, 6. Juli 2022.

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