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Münster (upm/nor)
Prof. Dr. Detlef Pollack wollte nie Pfarrer werden, doch ab und an muss der Religions- und Kirchensoziologe auch eine Kirche besuchen (hier die münstersche Petri-Kirche), „um einen Eindruck davon zu gewinnen, was sich da eigentlich abspielt“, wie er sagt.<address>© WWU - MünsterView</address>
Prof. Dr. Detlef Pollack wollte nie Pfarrer werden, doch ab und an muss der Religions- und Kirchensoziologe auch eine Kirche besuchen (hier die münstersche Petri-Kirche), „um einen Eindruck davon zu gewinnen, was sich da eigentlich abspielt“, wie er sagt.
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Mit Pragmatismus und Mut

Eine außergewöhnliche deutsch-deutsche Karriere endet: Religionssoziologe Detlef Pollack geht in den Ruhestand

Für Detlef Pollack wird der 31. Juli 2022 der Tag der Tage sein – der (Sonn-)Tag, an dem er offiziell seine berufliche Karriere beenden wird. Jeder Fast-Ruheständler reagiert anders, wenn er an seine bevorstehende Emeritierung denkt. Der eine wird mit Blick auf den „drohenden“ Abschied nervös, der andere schaut mit reichlich Wehmut auf seine Laufbahn zurück, der dritte plant bereits lange vorher und mit großer Vorfreude „die Zeit danach“. Den Professor für Religionssoziologie zeichnet dagegen vor allem eines aus, wenn er auf diesen Tag angesprochen wird: Gelassenheit. Aus gutem Grund. „Für mich wird sich nicht viel ändern“, betont Detlef Pollack. „Ich werde lebenslang Wissenschaftler bleiben. Und ganz ehrlich: Alles andere könnte auch nur schiefgehen.“

Die Deutsche Bahn wird somit weiter auf ihren treuen Kunden Detlef Pollack zählen können, der die Zug-Pendelei zwischen seinem familiären Wohnort Berlin (-Friedenau) und Münster beibehalten wird. Ein Hin und Her zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands, was irgendwie perfekt zur Vita des gebürtigen Weimarers passt. Von seinen 66 Lebensjahren hat Detlef Pollack fast die Hälfte in der sowjetischen Besatzungszone, auch DDR genannt, verbracht – die andere Hälfte im wiedervereinigten Deutschland. „Die politische Wende im Jahr 1989 war auch meine entscheidende biografische Wende“, sagt er.

Wenn er an seine Jugendjahre im Alter ab drei Jahren in Stalinstadt, dem heutigen Eisenhüttenstadt, denkt, dann kommt ihm vor allem die bedrückende Wohnsituation in den Sinn. Mit seiner Mutter lebte er in einem der typischen Plattenbauten, „in dem man buchstäblich fast keine Luft zum Atmen bekam“. Mindestens ebenso prägend waren seine neun Jahre als Mitglied des weltbekannten, im Jahr 1212 gegründeten Leipziger Thomanerchors. Sein Leben glich in dieser Phase dem eines Internatsschülers, der alle zwei bis vier Wochen nach Hause durfte – für weniger als 24 Stunden. „Das war hart“, erinnert sich Detlef Pollack, „aber Kinder können enorm viel vertragen.“

Auf dem Gesangsprogramm stand in erster Linie geistliche Chormusik, was auf Detlef Pollacks berufliche Karriere noch großen Einfluss haben sollte. Der Chor und die Gemeinschaft standen über allem für die Knaben, die mit reichlich Stolz ihre „Kieler Blusen“ als Markenzeichen trugen. Dieses spezielle Zusammengehörigkeitsgefühl ging sogar so weit, dass sich die Thomaner vehement gegen die Pläne des DDR-Politbüros wehrten, in jeder Klasse einen „Erzieher“ zu installieren, der für die klassenkämpferische Begleitung der Heranwachsenden sorgen sollte – der Widerstand zeigte Erfolg.

Ein wie auch immer ideologisch belastetes Studienfach kam für Detlef Pollack, der in einem systemkritischen Elternhaus aufgewachsen war, nicht infrage. Und so blieb für ihn „nur“ die Theologie übrig. „Aber nicht aus Glaubensgründen“, unterstreicht er, „ich wollte nie Pfarrer werden.“ Ein konkretes Berufsziel hatte er nicht vor Augen. Vielleicht, so seine damalige Hoffnung, könnte er in einem Verlag oder in einer Bibliothek unterkommen.

Seine „große Zukunftsangst“ war mit einem Schlag überwunden, als ihm der Wegzug eines Professors in den Westen 1981 den Job eines Assistenten an der staatlichen Leipziger Karl-Marx-Universität, Sektion Theologie, bescherte. Der Dekan betraute ihn mit der Aufgabe der Religionssoziologie, einem Fach, das nicht wirklich existierte und Detlef Pollack traumhafte Arbeitsbedingungen verschaffte. „Ich konnte machen, was ich wollte – ich durfte sogar Pfarrer und Oppositionsgruppen für meine empirische Arbeit befragen.“ Mehr noch: Detlef Pollacks Stelle wurde entfristet, 1984 folgte seine mit „höchstem Lob“ bewertete Promotion. Die Zukunft schien gesichert. Und doch waren es „bleierne Jahre“, blickt er zurück. „Es fühlte sich an, als ob man nicht am richtigen Leben teilnahm, als ob man außerhalb stand. In meinen DDR-Jahren habe ich vor allem eines gelernt: Pragmatismus.“

Im Oktober 1989 brachten mehr und mehr mutige DDR-Bürger ihre Unzufriedenheit auf Demonstrationen zum Ausdruck. Auch Detlef Pollack hakte sich unter und lief mit. Den Fall der Mauer erlebte er allerdings in Zürich, wo er ein Semester verbrachte. „Ich war enorm stolz auf uns alle – darauf, dass wir es geschafft hatten, das Regime aus den Angeln zu heben.“

Die wahre berufliche Bewährungsprobe stand Detlef Pollack allerdings noch bevor. Mit der Wiedervereinigung wurde ihm klar, dass er nur dann eine akademische Zukunftschance bekommen würde, wenn er sich den Kollegen in der Bundesrepublik stellen und im Westen habilitieren würde. „Ich hatte regelrecht Angst vor dieser Konkurrenz.“ Hinzu kam, dass er sich für eine Habilitation in einem Fach entschied, in dem er zuvor nicht eine einzige Vorlesung besucht hatte – der Soziologie. Er empfand diese Wahl als seine „einzige Chance“, die er 1994 an der Universität Bielefeld mit einer Arbeit über den gesellschaftlichen Wandel der evangelischen Kirchen und der politisch-alternativen Gruppen in der DDR bestand.

Detlef Pollack war endgültig angekommen, in jeder Hinsicht. Von 1995 bis 2008 lehrte und forschte er an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder, wo sich allerdings der chronische Geldmangel unangenehm bemerkbar machte. Jeder Hochschullehrer kämpfte für sich, ein Miteinander kam nie zustande. An der WWU, an die er 2008 wechselte, fand er vor allem am Exzellenzcluster Religion und Politik endlich das vor, wonach er sich geradezu gesehnt hatte: eine große Fächervielfalt, einen intensiven interdisziplinären Austausch, „eine einzigartige Diskussionskultur“.

Seitdem sorgte Detlef Pollack mit seinen Studien über religiöse Minderheiten, über den religiösen Wandel in Europa und über die schwindenden Bindekräfte der Kirchen regelmäßig für Aufsehen. „Das ist auch das Ergebnis einer extrem angenehmen Kollegialität – und dafür bin ich sehr dankbar.“

Neuigkeit: Detlef Pollack bleibt der Universität Münster über den 31.7.2022 hinaus als Seniorprofessor erhalten.
 

Autor: Norbert Robers

Dieser Text stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 1. Juni 2022.

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