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Münster (upm/ch)
Nahrungsergänzungsmitteln aus Heidelbeeren attestierte das münstersche Team teils „katastrophale Qualitätsmängel“.<address>© adobe.stock.com – xamtiw</address>
Nahrungsergänzungsmitteln aus Heidelbeeren attestierte das münstersche Team teils „katastrophale Qualitätsmängel“.
© adobe.stock.com – xamtiw

"Gespräche mit den Herstellern enden häufig im Nichts“

Der Pharmazeut Andreas Hensel und sein Team ermitteln Qualitätsmängel von Nahrungsergänzungsmitteln

Ob in Drogerien, in Reformhäusern, in Apotheken oder im Internet: Nahrungsergänzungsmittel (NEM) sind vielerorts erhältlich, der Markt boomt. Viele dieser Produkte enthalten pflanzliche Extrakte, deren Inhaltsstoffe eine gesundheitsfördernde Wirkung haben sollen – wenn drin ist, was draufsteht. Denn längst nicht alle dieser sogenannten Botanicals halten, was sie versprechen.

„Innerhalb der vergangenen Jahre haben sich Hinweise gemehrt, dass Botanicals teilweise massive Qualitätsmängel aufweisen“, berichtet Prof. Dr. Andreas Hensel vom Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie (IPBP) der WWU. Dies könne sich auf Mindergehalte beziehen, teilweise seien auch wirkstofffreie Produkte gefunden worden oder bedenkliche, nicht deklarierte Inhaltsstoffe. Das IPBP führt in einem Langzeitprojekt zur Qualitätsbeurteilung von Nahrungsergänzungsmitteln eigene wissenschaftliche Studien durch. Die eingesetzten komplexen und validierten Analysemethoden orientieren sich an Protokollen, wie sie routinemäßig auch zur Arzneimittelprüfung verwendet werden.

Prof. Dr. Andreas Hensel<address>© WWU - Peter Dziemba</address>
Prof. Dr. Andreas Hensel
© WWU - Peter Dziemba
Apotheker Andreas Hensel bilanziert: „Unsere bisher publizierten Ergebnisse bestätigen teilweise erschreckende Qualitätsmängel. So gab es bei mehr als 50 Prozent aller untersuchten Brokkoli-Extrakt-NEM, die zur Vorbeugung von Krebserkrankungen eingesetzt werden, deutliche Qualitätsprobleme.“ Konkret zeigten die Wissenschaftler: Bestimmte Glucosinolate (Senfölglycoside), die vor der Entstehung von Krebs schützen sollen, waren in weniger als der Hälfte der Proben gemäß Deklaration enthalten. Zum Teil waren die spezifischen Glucosinolate überhaupt nicht nachweisbar.

Auch eine weitere Studie zu Nahrungsergänzungsmitteln aus Heidelbeeren zeigte teils „katastrophale Qualitätsmängel“, berichtet Lebensmittelchemiker Dr. Matthias Lechtenberg, Akademischer Oberrat am Institut und Experte für Naturstoffanalytik. Heidelbeeren, genauer gesagt die darin enthaltenen Anthocyane und Gerbstoffe, werden in der Medizin traditionell unter anderem zur Behandlung von starken Durchfällen eingesetzt. Die Wissenschaftler fanden neben Produkten, die keine nachweisbaren Mengen an Heidelbeeren beziehungsweise nur sehr geringe Anthocyan- und Gerbstoff-Mengen enthielten, auch NEM-Proben, die mit Anthocyanen aus anderen botanischen Quellen verfälscht worden waren.

Dr. Matthias Lechtenberg<address>© WWU - Peter Dziemba</address>
Dr. Matthias Lechtenberg
© WWU - Peter Dziemba
Dass Nahrungsergänzungsmittel nicht per se schlecht sind, davon ist Andreas Hensel überzeugt. Das Problem sei die unzureichende Qualitätskontrolle. Im Gegensatz zu Arzneimitteln, die einer strengen, kontinuierlichen Qualitätsprüfung unterliegen, gilt für Nahrungsergänzungsmittel das Lebensmittelrecht. Die Produkte werden in Verantwortung des Herstellers lediglich stichprobenartig überprüft. „Eine strenge analytische Kontrolle seitens der Lebensmittelüberwachungsbehörden wird unter anderem aufgrund fehlender Kapazitäten kaum durchgeführt“, sagt Andreas Hensel.

Die Gesellschaft für Phytotherapie fordert in einem Positionspapier, an dem auch Andreas Hensel beteiligt ist, Maßnahmen, um Nahrungsergänzungsmittel von pflanzlichen Arzneimitteln abzugrenzen. Denn für Verbraucher ist diese Unterscheidung oft nicht einfach: NEM sind beispielsweise als Tabletten oder Lösungen erhältlich und enthalten laut Deklaration teils die gleichen pflanzlichen Wirkstoffe wie entsprechende Arzneimittel. Dass im Unterschied zu letzteren bei den Botanicals die Qualität unter Umständen nicht gewährleistet ist, ist für Verbraucher nicht transparent, zumal viele Hersteller mit – teils nicht belegten – gesundheitsbezogenen Wirkungen werben. „Eine geltende EU-Verordnung, dass solche Aussagen für NEM-Botanicals nur gemacht werden dürfen, wenn die entsprechenden Claims seitens der European Food Safety Agency durch Studien an Gesunden als wissenschaftlich belegt angesehen werden, wird in der Praxis nicht eingehalten“, sagt Andreas Hensel.

Auch die Tatsache, dass Nahrungsergänzungsmittel dazu bestimmt sind, Defizite in der Ernährung von gesunden Menschen auszugleichen, ist nicht immer klar. „Eine unkontrollierte Anwendung von NEM kann bei schwerwiegenden Erkrankungen zu massiven Gesundheitsschäden führen“, erläutert Matthias Lechtenberg. „Dies ist für Grünteepräparate dokumentiert, die von Krebspatienten eingenommen wurden.“ Die hochdosierten Präparate, die Gesunde vor dem Entstehen von Krebs schützen sollen, können bei Krebspatienten lebensbedrohliches Leberversagen auslösen.

Andreas Hensel und sein Team haben Hersteller mit ihren Ergebnissen konfrontiert. Einige Hersteller seien entsetzt gewesen über die schlechten Analyseergebnisse und hätten das Gespräch gesucht. Manche hätten behauptet, die Ergebnisse der Wissenschaftler seien falsch. Am häufigsten komme gar keine Antwort. „Gespräche mit Herstellern enden häufig im Nichts", berichtet Andreas Hensel. „Ein Beispiel ist unsere Mitteilung eines massiven Qualitätsmangels an den Hersteller – ein Heidelbeerprodukt war weitgehend wirkstofffrei. Als Reaktion bewarb der Hersteller das Produkt unter dem Slogan ‚buy two, get three‘, um die beanstandete Charge noch schnell zu vermarkten.“

Autorin: Christina Hoppenbrock

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 10. November 2021.

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