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Münster (upm/bhe)
Fotos zeigen Gewächshäuser in Rajsko, nahe des KZ Auschwitz, in denen der Löwenzahn als Nutzpflanze optimiert werden sollte. Die Nationalsozialisten zwangen entführte Wissenschaftler, daran zu forschen.<address>© Rose Smith (https://subcamps-auschwitz.org/auschwitz-subcamps/wirtschaftshof-raisko)</address>
Fotos zeigen Gewächshäuser in Rajsko, nahe des KZ Auschwitz, in denen der Löwenzahn als Nutzpflanze optimiert werden sollte. Die Nationalsozialisten zwangen entführte Wissenschaftler, daran zu forschen.
© Rose Smith (https://subcamps-auschwitz.org/auschwitz-subcamps/wirtschaftshof-raisko)

Ein neuer Kautschuk-Boom?

Löwenzahn-Forschung geriet nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Vergessenheit und ist nun wieder in den Laboren angekommen

Die berühmte „Linie 485“ des Russischen Löwenzahns (l.) galt im Vergleich zu ihrer Wildform als besonders ertragreich. Beide werden bis heute in einer Vitrine im St. Petersburger Vavilov-Institut ausgestellt.<address>© Dirk Prüfer</address>
Die berühmte „Linie 485“ des Russischen Löwenzahns (l.) galt im Vergleich zu ihrer Wildform als besonders ertragreich. Beide werden bis heute in einer Vitrine im St. Petersburger Vavilov-Institut ausgestellt.
© Dirk Prüfer
Eine Wiese in einem Tal des Tian Shan Gebirges, irgendwo in der kasachischen Einöde. Eine Pflanze, die kaum einer kannte. Ein russisches Forschungsinstitut unter Druck. Denn sowohl Stalin als auch Hitler wollten ihn unbedingt haben: den Russischen Löwenzahn oder Taraxacum koksaghyz. Unter schwierigsten Bedingungen gelang es den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im chronisch unterfinanzierten Vavilov-Institut, ihren Bestand im belagerten Leningrad zu erhalten, darunter eine Hochertragslinie mit der Nummer 485 der begehrten Pflanze. Die Nationalsozialisten stahlen die Sammlung und verschleppten die damit befassten russischen Wissenschaftler in ihre Konzentrationslager. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet der Russische Löwenzahn zunehmend in Vergessenheit. Lediglich Saatgut unbekannten Ursprungs wurde in mehreren botanischen Gärten auf der ganzen Welt aufbewahrt. Erst sechzig Jahre später brachten DNA-Sequenzierungen ans Licht, dass versehentlich falsches Saatgut gelagert wurde, überall war stattdessen Taraxacum brevicornicolatum konserviert worden. Die Suche begann von vorn und führte um den halben Globus.

Das wäre durchaus ein geeigneter Stoff für auflagenstarke Wissenschaftskrimis. Am Institut für Biologie und Biotechnologie der Pflanzen der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster und am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME aber ist der Löwenzahn in erster Linie ein Forschungsgegenstand. Das Projekt von Prof. Dr. Dirk Prüfer und Dr. Christian Schulze Gronover entwickelt mit Kooperationspartnern aus der Wirtschaft und unter großem öffentlichen Interesse gerade einen vielversprechenden Anwendungsbezug, trotz eines schwierigen historischen Erbes.

Beispiel für einen schriftlichen Bericht der Nationalsozialisten über vermeintliche Fortschritte in der Erforschung des Russischen Löwenzahns. Stempel wie „geheim“ oder „dringend“ sind häufig in der Korrespondenz zu finden und belegen, wie die Kriegstreiber nach verfügbarem Kautschuk gierten und wie knapp der importierte Rohstoff geworden war, vor allem nach dem Überfall auf Russland. Das gesamte Konvolut, das Prof. Dr. Dirk Prüfer aus dem Bundesarchiv bezogen und ausgewertet hat, umfasst über tausend Seiten zur „Geheimen Reichssache Gummipflanze Kog-Sagis“.<address>© Bundesarchiv</address>
Beispiel für einen schriftlichen Bericht der Nationalsozialisten über vermeintliche Fortschritte in der Erforschung des Russischen Löwenzahns. Das gesamte Konvolut, das Prof. Dr. Dirk Prüfer aus dem Bundesarchiv bezogen und ausgewertet hat, umfasst über tausend Seiten zur „Geheimen Reichssache Gummipflanze Kog-Sagis“.
© Bundesarchiv

„Die Pflanze kann ja nichts dafür“, sagt Dirk Prüfer. Zusammen mit einem Züchter und dem Reifenhersteller Conti untersucht das Team vor allem den Kautschuk-Gehalt in den Wurzeln. „Im Zweiten Weltkrieg war das Militär hinter dem Rohstoff her“, erläutert der Biologe. Zunächst habe Stalin eine heimische Alternative zum Kautschukbaum suchen lassen. Die Wissenschaftler fanden sie im besagten Tal, im Vavilov-Institut wurde auf höhere Erträge selektiert. Als dann die Deutschen im heutigen St. Petersburg einmarschierten, haben sie das Zuchtmaterial für Forschungseinrichtungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mitgenommen. „Beide Seiten brauchten Reifen für ihre Fahrzeuge und wollten nicht von Importen aus Südostasien abhängig sein.“ Dass der Milchsaft aus Löwenzahnwurzeln sich eignen würde, galt als sicher. „Die Berichte waren aber übertrieben und kündigten mitunter völlig unrealistische Erfolge an,“ erläutert Dirk Prüfer. Der Ertrag sei viel zu gering gewesen. Ihn mit den damaligen Techniken zu erhöhen, hätte – wie auch bei anderen Nutzpflanzen – Jahrhunderte gedauert. Dennoch ließen die Nationalsozialisten für die fragwürdige Hoffnung auf schnellere Erfolge Wissenschaftler aus Polen und Russland entführen und Zwangsarbeiter in Laboren, Gewächshäusern und auf den Äckern schuften, unter anderem in den Konzentrationslagern. „Wir haben mit Gedenkstätten zusammengearbeitet“, unterstreicht Dirk Prüfer, „das war sehr beklemmend.“

Nach dem Krieg wurden die Arbeiten mit Russischem Löwenzahn zunehmend eingestellt. Naturkautschuk konnte nun wieder sicher aus Südostasien bezogen werden. Seit den späten 1990ern erfuhr die Erforschung neuer Kautschukpflanzen eine Renaissance, die bis heute anhält. Grund hierfür ist vor allem die gesteigerte Nachfrage, weshalb Naturkautschuk auf der Liste der kritischen Rohstoffe vieler Industrienationen steht. Er ist und bleibt unverzichtbar für die Herstellung von Reifen, insbesondere LKW-Reifen.

Eine Wiederentdeckung weckt das öffentliche Interesse

Schon vor der Nominierung des Löwenzahn-Projekts für den Deutschen Zukunftspreis gab es viel positive Resonanz auf die Forschungsarbeiten. Ganz Naturwissenschaftler, unterteilt Dirk Prüfer Zuschriften und Presseanfragen in drei Kategorien: „Die einen sind angetan von dem Nachhaltigkeitsgedanken, so wie ich persönlich auch. Ein regional angebauter Rohstoff könnte eine knapper werdende Ressource ersetzen, für deren Anbau in Monokulturen am anderen Ende der Welt Regenwälder abgeholzt werden.“ Dann gebe es eine Fraktion, die sich vor allem für den technischen Prozess interessiere. „Welche Moleküle sorgen für die elastische Struktur, welche Geräte nutzen wir, um die Kautschukqualität zu bestimmen, und so weiter“, zählt der Biologe auf. Um die bewegte Vergangenheit der Pflanze geht es Dirk Prüfer zufolge einer dritten Gruppe, den historisch Interessierten. Ihnen schildert der Wissenschaftler, was aus der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geratenen Forschung geworden ist und wie er zu der aktuellen Wiederentdeckung des Löwenzahn-Kautschuks kam.

„Am Fraunhofer-Institut in Schmallenberg waren wir ursprünglich auf der Suche nach geeigneten Pflanzen, die man zur Herstellung therapeutischer Proteine nutzen könnte“, erinnert sich Dirk Prüfer an die Anfänge in den 1990er Jahren, die er rückblickend durchaus als „ein wenig naiv“ bezeichnet. „Wir hatten die Idee, derartige Proteine im Milchsaft des Löwenzahns herzustellen. Der Milchsaft wäre einfach isolierbar und so auch das therapeutische Protein.“ Dieser Ansatz sei jedoch aufgrund der öffentlichen Kritik gegenüber gentechnisch veränderten Pflanzen nicht weiterverfolgt worden. Das Team habe daher, dann in Münster, nur an grundlegenden Fragestellungen rund um die Zusammensetzung des Milchsafts gearbeitet. 2007 fand sich ein großes internationales Projekt-Team mit einem ehrgeizigen Ziel zusammen: der Erschließung des Löwenzahns als nachhaltigen Gummilieferanten. „Ich war zu dem Zeitpunkt selbst noch unsicher, ob man damit jemals Autoreifen herstellen könnte“, räumt Dirk Prüfer ein. „Trotzdem war das einer der schönsten Anträge, die wir je geschrieben haben – die Gutachter haben in allen Kategorien die volle Punktzahl gegeben. Das ist sehr ungewöhnlich.“ Neben Forschern aus Spanien, Frankreich, den USA, der Schweiz und den Niederlanden waren unter anderem ein tschechischer Kollege und eine Wissenschaftlerin aus Kasachstan beteiligt. „Als wir dem Löwenzahnspezialisten Jan Kirschner von der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Prag Taraxacum koksaghyz mitgebracht haben, standen ihm fast die Tränen in den Augen, so sehr hat er sich gefreut.“

Das falsche Saatgut

Gemeinsamer Besuch von Prof. Dr. Joachim Schiemann vom Julius Kühn Institut (Bild) und Prof. Dr. Dirk Prüfer in einem ungeheizten Teil des Vavilov-Instituts – im Winter bei einer Außentemperatur von circa 20 Grad Minus.<address>© Dirk Prüfer</address>
Gemeinsamer Besuch von Prof. Dr. Joachim Schiemann vom Julius Kühn Institut (Bild) und Prof. Dr. Dirk Prüfer in einem ungeheizten Teil des Vavilov-Instituts – im Winter bei einer Außentemperatur von circa 20 Grad Minus.
© Dirk Prüfer
Die Laborarbeit in Münster brachte aber eine Verwechslung ans Licht, und so währte diese Freude zunächst nicht allzu lange. „Die bisher für diese Art beschrieben Eigenschaften passten nicht zu unseren Ergebnissen“, erläutert Dirk Prüfer. „Da waren wir perplex. Mit diesen Pflanzen konnten wir nicht weitermachen.“ Die Samen stammten aus verschiedenen botanischen Gärten aus aller Welt. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um Klone einer Art handelte, nur leider die falsche. „So etwas kann passieren“, vermutet der Biologe, „die Bestimmung von Löwenzahnarten ist kompliziert. Weltweit gibt es nur noch wenige Menschen, die das können.“ Das Saatgut stammte von Taraxacum brevicorniculatum, einer verwandten Art. Da die botanischen Gärten untereinander gut vernetzt sind, habe es die blühfreudige, aber kautschukarme Variante so in unterschiedliche Sammlungen geschafft.

Die Wissenschaftler machten sich erneut auf die Suche und wurden an drei Stellen fündig: Die kasachische Biologin ermöglichte eine Exkursion in ein Tal ihrer Heimat, dessen Bewohner das „grüne Gummi“ aus Löwenzahnwurzeln als Kaugummi nutzen. Nun konnte das Projekt auf eine Wildsammlung zurückgreifen. In Kooperation mit russischen Wissenschaftlern erhielt Dirk Prüfer zudem die Möglichkeit, Löwenzahnakzessionen des Vavilov-Instituts in St. Petersburg näher zu erforschen. Hinzu kamen Samen aus der US-amerikanischen Samenbank des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten (USDA). „Saatgut der letzteren beiden haben wir dann aufgebaut“, berichtet Dirk Prüfer, der sich noch gut an seinen Aufenthalt im legendären Vavilov-Institut erinnert. „Dort habe ich tolle Menschen kennengelernt, die sich mit viel Idealismus um ihre Sammlung kümmern. Wir sind noch immer in Kontakt!“

In Kooperation mit russischen Wissenschaftlern erhielt Dirk Prüfer die Möglichkeit, Löwenzahnakzessionen des Vavilov-Instituts in St. Petersburg näher zu erforschen.<address>© wikimedia Commons/ Dag Endresen</address>
In Kooperation mit russischen Wissenschaftlern erhielt Dirk Prüfer die Möglichkeit, Löwenzahnakzessionen des Vavilov-Instituts in St. Petersburg näher zu erforschen.
© wikimedia Commons/ Dag Endresen

Die meisten Pflanzenzüchter hätten zunächst abgewunken, als Dirk Prüfer sie auf eine mögliche Kooperation in der Entwicklung des Russischen Löwenzahns zu einer Kulturpflanze ansprach. Dr. Fred Eickmeyer, ein Züchter aus dem niederbayerischen Parkstetten, griff jedoch zu. Ohnehin war er bereits auf Sonderkulturen wie Heil- und sogenannte Medizinalpflanzen spezialisiert. Der Löwenzahn zählt heute zu seinen wichtigsten Forschungsprojekten. „Wir liefern ihm die Daten aus dem Labor, und er übernimmt die klassische Züchtung“, erläutert Dirk Prüfer.

Die Münsteraner kooperieren auch mit anderen Wissenschaftsdisziplinen, um die unrühmliche Forschungshistorie aufzuarbeiten, an der gleich zwei Diktaturen beteiligt waren. Die heutige, zivile Nutzung von Löwenzahn-Kautschuk ist mittlerweile schon einen wichtigen Schritt weiter. Immerhin existieren bereits kommerziell erhältliche Fahrradreifen aus dem neu gewonnenen Rohstoff – sichtbares Ergebnis einer internationalen, kooperativen Zusammenarbeit.

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