
Wie Wohnen nachhaltig gelingen kann
In vielen Städten ist der Wohnraum knapp und teuer. Gleichzeitig zieht es immer mehr Menschen in den urbanen Raum, um dort zu leben und zu arbeiten. 2020 lebten rund 77,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands in Städten. Zugleich nimmt die Anzahl an Ein-Personen-Haushalten ebenso kontinuierlich zu wie die durchschnittliche Wohnfläche pro Person. Die Folgen: steigender Flächenverbrauch sowie die Zunahme an Konsum, Ernährung, Mobilität, Strom und Heizen. Weitere Herausforderungen für das Leben in der Stadt bergen die Folgen des globalen Klimawandels: etwa Starkregen-Ereignisse und Hitzewellen. Alternative und innovative Formen des Zusammenwohnens könnten laut Experten eine Möglichkeit sein, diesen Herausforderungen zu begegnen.
In seiner Dissertation am Institut für Soziologie der WWU untersuchte Dr. Benjamin Görgen, welche Nachhaltigkeitspotenziale gemeinschaftliche Formen der Lebensführung in der Stadt haben. Neben ökologischen Aspekten befasste er sich auch mit der sozialen Dimension von Nachhaltigkeit, die mit Fragen der Gerechtigkeit verbunden ist. „Es geht darum, das gemeinsame Leben so zu gestalten, dass es allen Beteiligten zugutekommt – jetzt und in Zukunft. Dabei spielen neben der gerechten Verteilung von materiellen und finanziellen Gütern auch Fragen der Anerkennung sowie der Partizipation eine wichtige Rolle“, erklärt Benjamin Görgen.
Die meiste Forschung zum Zusammenhang von Nachhaltigkeit und gemeinschaftlichen Formen des Zusammenlebens konzentriere sich auf Projekte im ländlichen Raum. Städte würden in diesem Kontext oft vernachlässigt – und das, obwohl diesen eine zentrale Bedeutung für eine sozial-ökologische Transformation zukomme.
Anhand von zwei gemeinschaftlichen Wohnprojekten im urbanen Raum untersuchte Benjamin Görgen die Realisierungsbedingungen nachhaltiger Lebensführung. Bei diesen Projekten handelt es sich um ein alternatives, überwiegend studentisch geprägtes Wohnprojekt und ein Mehrgenerationen-Wohnprojekt. „Für meine Untersuchung habe ich unter anderem Interviews mit den Bewohnern geführt, eine umfassende Dokumentenanalyse vorgenommen und teilnehmende Beobachtung in beiden Projekten durchgeführt“, erklärt der Soziologe sein methodisches Vorgehen.
Seine Ergebnisse zeigen, dass in den untersuchten Wohnprojekten die Kohlendioxid (CO2)-Bilanz in den Bereichen Ernährung, Mobilität und Energiebedarf deutlich unter der des deutschen Bevölkerungsdurchschnitts liegt. Zusätzlich sind eine erhöhte politische Partizipation, überdurchschnittliches zivilgesellschaftliche Engagement sowie insbesondere Praktiken der sozialen Einbindung und der gegenseitigen Unterstützung zu beobachten.
Zugleich bestehen zwischen den beiden Projekten Unterschiede hinsichtlich ihren Rahmenbedingungen, ihrer Lebensführung und den ökologischen und sozialen Auswirkungen. Während die niedrigen Emissionen im studentisch geprägten Projekt unter anderem mit der geringeren Wohnfläche pro Person infolge des Teilens von Bädern, Küchen und anderen Gemeinschaftsflächen zusammenhängen, sind sie im Mehrgenerationen-Wohnprojekt eher auf die gute energetische Konstitution des Gebäudes zurückzuführen. „Nachhaltige Lebensführung ist keine individuelle Angelegenheit, sondern von einem komplexen Wechselspiel von sozio-materiellen Arrangements, Subjekten, Diskursen und sozialen Beziehungen geprägt“, erläutert Benjamin Görgen.
„Die Arbeit von Benjamin Görgen ist zukunftsweisend und trägt zum Verständnis und weiteren Debatten über die Möglichkeiten und Hürden einer Realisierung nachhaltigerer Formen der Lebensführung bei“, betont Prof. Dr. Matthias Grundmann, Sozialisations- und Gemeinschaftsforscher am Institut für Soziologie der WWU und Betreuer der Doktorarbeit. Die Erkenntnisse seien vor allem für die Stadtplanungspraxis und Wohnungspolitik relevant. Schlussendlich profitieren auch die Menschen in gemeinschaftlichen Wohnprojekten selbst von den praktischen Beispielen.
Zur Person
Benjamin Görgen studierte Sozialwissenschaften, Wirtschafts- und Sozialpsychologie sowie Soziologie an den Universitäten Köln und Münster und promovierte am Institut für Soziologie der WWU zum Thema „Nachhaltige Lebensführung“. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Netzwerks „Soziologie der Nachhaltigkeit“ und Mitherausgeber des Open-Access-Journals „Soziologie und Nachhaltigkeit“. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nachhaltigkeitsforschung, Umweltsoziologie, Protest- und Bewegungsforschung, Praxistheorien und empirische Sozialforschung. Aktuell abreitet Benjamin Görgen bei der Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich mbH in Köln.
Autorin: Kathrin Kottke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 06. Oktober 2021.