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Münster (upm/jah)
Dr. Ingo Budweg arbeitet seit 2013 als Oberarzt im Herz-Jesu-Krankenhaus in Münster.<address>© WWU - Jana Haack</address>
Dr. Ingo Budweg arbeitet seit 2013 als Oberarzt im Herz-Jesu-Krankenhaus in Münster.
© WWU - Jana Haack

Wenn 90 Prozent nicht ausreichen

Im Kurs "Angewandte Musikermedizin" erklärt Oberarzt Ingo Budweg jungen Musikern, wie wichtig ihr Körper für ihre Karriere ist

Was ist das Besondere an unserer Hand?“, fragt Dr. Ingo Budweg die zwölf Studierenden der Musikhochschule im Zoom-Meeting. Die Teilnehmer des Seminars „Angewandte Musikermedizin“ überlegen sichtbar angestrengt, bis der Oberarzt in der Unfall-, Hand- und orthopädischen Chirurgie des münsterschen Herz-Jesu-Krankenhauses sie schließlich erlöst. „Es ist die Möglichkeit, Kraft exakt zu dosieren“, erklärt er. „Sie können ein Ei aus dem Kühlschrank nehmen, ohne dass es zerplatzt. Wenn es nötig ist, können Sie aber auch mit aller Kraft zupacken, um beispielsweise einen Amboss hochzuheben.“ Aber was haben diese Beispiele mit Musik zu tun hat? Ingo Budweg ist sich sicher, dass das Verständnis um die Abläufe im Körper beim Musizieren den Studierenden hilft, mögliche Alarmsignale für Krankheiten zu erkennen, bevor es zu spät ist.

In seinem Kurs lernen die Studierenden, was im Körper beim Spielen unterschiedlicher Instrumente oder beim Hören passiert, wie wichtig Gesundheit und Wohlbefinden für die Musik sind und letztlich auch, wie sie typischen Musiker-Krankheiten wie Überlastungen der Arme oder Finger vorbeugen können. „Im anstrengenden Musikstudium oder später als Berufsmusiker kann beispielsweise eine Verletzung an der Hand das Karriereende bedeuten“, erklärt der Mediziner. „Daher ist es wichtig, schon kleinste Signale ernst zu nehmen, auf sich zu achten und lieber zu früh als zu spät einen Arzt aufzusuchen, um irreparable Schäden zu vermeiden.“ Daher erklärt er im Zoom-Meeting nicht nur die Anatomie der beanspruchten Körperteile, sondern auch wie lange Verletzungen der Sehnen- und Bänder in diesem Bereich brauchen, um vollständig auszuheilen und wie groß die Rückfallgefahr bei zu frühem Training ist.

Den Studierenden gefällt diese Nähe zur Praxis. „Durch die anschaulichen Erklärungen hatte ich schon einige Aha-Momente - vor allem im Umgang mit meinem Instrument“, verrät Rebekka Wilhelm, die im Hauptfach Saxophon studiert. Sie besucht derzeit den zweiten der beiden aufeinander aufbauenden Musikermedizin-Kurse. „Mir wurde zum Beispiel klar, dass sich im Zweifel nicht der Mensch an das vorhandene Instrument anpassen muss, sondern sich das Instrument an den Menschen anpassen  muss, damit Fehlhaltungen soweit es geht vermieden werden.“

Die Handsprechstunde findet wöchentlich Mittwochvormittag im Behandlungszimmer von Ingo Budweg statt. Zu Beginn jedes Termins analysiert er die Röntgenbilder oder MRT-Aufnahmen der Patienten.<address>© WWU - Jana Haack</address>
Die Handsprechstunde findet wöchentlich Mittwochvormittag im Behandlungszimmer von Ingo Budweg statt. Zu Beginn jedes Termins analysiert er die Röntgenbilder oder MRT-Aufnahmen der Patienten.
© WWU - Jana Haack
Das Seminar ist ein Pflichtkurs für die Studierenden der Musikhochschule. Die Kooperation zwischen dem Fachbereich 15 der WWU und dem Herz-Jesu-Krankenhaus besteht seit 2012. Für Barbara Plenge, Studiendekanin der Musikhochschule ist es ein zentrales Anliegen, die Gesundheit der Musiker zu fördern. „Musikpsychologie oder Musikermedizin zielen darauf ab, das lebenslange Musizieren möglichst frei von gesundheitlichen Beschwerden und psychosozialen Problemen zu gewährleisten“, erklärt sie. Denn diese Beschwerden und damit einhergehende Trainingspausen können gerade ehrgeizige Musiker, die eine Solokarriere anstreben, entscheidend zurückwerfen.

Auch Ingo Budweg versteht den Ehrgeiz der jungen Musiker und den Drang, schnell wieder fit zu werden, denn auch er ist leidenschaftlicher Musiker. Nach dem Medizinstudium schloss er ein Musikstudium mit dem Hauptfach Horn und dem Nebenfach Klavier an. Zudem ist er Mitbegründer des 1999 ins Leben gerufenen „Freien Musical-Ensembles der Universität Münster“. Seitdem versucht er die Musik und die Medizin zu verbinden – auch in seinem Beruf. In seine handchirurgische Sprechstunde im Herz-Jesu-Krankenhaus lädt der Lehrbeauftragte der WWU auch die Seminarteilnehmer seiner Kurse ein. „Ich versuche, ein Ansprechpartner für die Studierenden zu sein, der ihre Sorgen und Ängste, vielleicht nicht mehr zu 100 Prozent belastbar zu sein oder für längere Zeit auszufallen, versteht“, erklärt er.

Musikstudentin Rebekka Wilhelm hat bereits Ingo Budwegs Sprechstunde besucht. „Er hat mir unkompliziert eine Einschätzung zu meinem Problem gegeben und Tipps, wie ich weiter damit umgehen soll“, erzählt die Studentin. „Dadurch, dass er nicht nur Handspezialist, sondern auch Musiker ist, habe ich mich gut aufgehoben gefühlt.“ Für den Arzt ist es selbstverständlich, auf die besonderen Bedürfnisse von Musikern einzugehen. „Ein Journalist kann seinen Beruf mit einer zehnprozentigen Einschränkung seiner Hand nach einer Verletzung noch ausüben. Ein Musiker ist dagegen mit einer nur zu 90 Prozent wiederhergestellten Hand vermutlich berufsunfähig“, erklärt Ingo Budweg. Daher sei es wichtig, etwa auf schnelle Operationstermine, genaue Ursachensuche und eine gute Beratung zu achten.

Genau das versucht er in seiner handchirurgischen Sprechstunde im Hiltruper Krankenhaus zu leisten. Vor seinem Behandlungszimmer stehen die Patienten Schlange. Ingo Budweg fragt jeden Gast nach seinen Hobbys und dem Beruf, um bestmöglich helfen zu können. Außerdem ist es ihm wichtig, immer auf dem neuesten Stand der Medizin zu bleiben. Als ein Patient mit Schmerzen in der Hand nach einem Sturz ins Sprechzimmer kommt, ordnet der Mediziner eine spezielle Art der Röntgenaufnahme an, um das Ausmaß der Verletzung zu analysieren.

Mit der sogenannten Pencil-Grip-Aufnahme, bei der der Patient während der Aufnahme mit beiden Händen einen Stift umklammert, kann er die kleinen Knochen in der Hand optimal miteinander vergleichen und etwaige Schäden erkennen. Immer aufmerksam und wissbegierig zu bleiben - diesen Anspruch möchte er auch seinen Seminarteilnehmer mit auf den Weg geben, damit sie ihr Wissen später an ihre künftigen Musikschüler weitergeben können. „Schließlich sind die Musikstudierenden von heute unsere Musiklehrer von morgen, die viel verändern können", betont er.

Autorin: Jana Haack

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 16. Juni 2021.

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