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Münster (upm/kk)
Prof. Dr. Christian Fischer<address>© Ute Schernau</address>
Prof. Dr. Christian Fischer
© Ute Schernau

"Die Akzeptanz der Begabungsförderung hat zugenommen"

20 Jahre Institut für Begabungsforschung: Leiter Christian Fischer über neue Trends in der Gesellschaft und Forschung

Die Anfänge der Begabungsforschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster reichen bis in die 1990er Jahre zurück. Inzwischen hat sich das Internationale Centrum für Begabungsforschung (ICBF) gemeinsam mit seinen Partneruniversitäten Nijmegen (Niederlande) und Osnabrück zu einem international anerkannten wissenschaftlichen Institut entwickelt. Prof. Dr. Christian Fischer, Vorstandsvorsitzender des ICBF, sprach anlässlich des 20-jährigen Jubiläums mit Kathrin Kottke über die Rolle, Aufgaben und Veränderungen in der Begabungsforschung.

Bei der Eröffnung vor 20 Jahren betonten Sie, dass es im ICBF vorrangig darum gehe, begabte Kinder zu fördern. Ist das heute immer noch der Schwerpunkt?

Auch heute geht es uns um begabte Kinder, wobei inzwischen eine konzeptuelle Weitung des Begabungsbegriffs die Grundlage für unsere Arbeitsschwerpunkte Begabungsforschung und -förderung sowie Professionalisierung darstellt. Dabei adressieren wir alle Kinder als potenziell leistungsfähig und nehmen im Sinne eines umfassenden Verständnisses von Diversität und Inklusion auch Kinder mit Beeinträchtigungen oder aus bildungsbenachteiligten Lagen verstärkt in den Blick.

Damit hat sich auch das Verständnis von „Begabung“ verändert?

Vor 20 Jahren hatten wir einen starken Fokus auf intellektuell begabte Kinder. Heute haben wir ein deutlich breiteres Verständnis und betrachten Begabung als leistungsbezogenes Entwicklungspotenzial, das sich durch die individuelle Konstellation aus Fähigkeiten und der Persönlichkeit ergibt. Im Sinne einer nachhaltigen Potenzialentwicklung nehmen wir neben der sogenannten Personen-Orientierung zunehmend die Gemeinwohl-Orientierung in den Blick.

Was bedeutet Gemeinwohlorientierung in diesem Zusammenhang?

Lange Zeit standen in der Begabungsforschung vor allem kognitive Problemlösungen im Rahmen klassischer Intelligenzmodelle im Mittelpunkt des Interesses. Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen gewinnt die nachhaltige Gemeinwohlorientierung mit Blick auf kreative Problemlösungen verstärkt an Relevanz. Vor allem für eine innovative Zukunftsgestaltung – verbunden mit ethischer Verantwortungsübernahme und zivilgesellschaftlichem Engagement – ist dies entscheidend.

Die Förderung von besonders begabten Menschen galt lange als elitärer Ansatz. Ist das heute immer noch der Fall?

In den schulischen Praxisphasen begleiten Lehrpersonen gemeinsam mit Studierenden der WWU im Rahmen des „Forder-Förder-Projekts“ Grundschüler individuell zum selbstregulierten Lernen.<address>© WWU - ICBF</address>
In den schulischen Praxisphasen begleiten Lehrpersonen und WWU-Studierende im Rahmen des "Forder-Förder-Projekts" Grundschüler individuell zum selbstregulierten Lernen.
© WWU - ICBF
Die Befunde der internationalen Schulvergleichsstudien zeigen nach wie vor einen Nachholbedarf im Hinblick auf die individuelle Förderung von leistungsschwächeren Schulkindern, aber auch von potenziell und tatsächlich leistungsstarken Schülerinnen und Schülern. Damit hat die Akzeptanz der Förderung von Begabten und Talentierten deutlich zugenommen, sodass dies nicht mehr als elitärer Ansatz gilt. Dazu trägt auch die stärkere Gemeinwohlorientierung in der Begabungs- und Begabtenförderung bei.

Gibt es in diesem Zusammenhang trotzdem noch Herausforderungen für begabte Menschen?

Die Offenheit in der Gesellschaft für Personen mit besonderen Begabungen und speziellen Talenten hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Bildungsinstitutionen wie beispielsweise Kitas und Schulen gestalten für diese Zielgruppen zunehmend passendere Lernumgebungen. Gleichwohl gibt es Nachholbedarf in der Begabungs- und Begabtenförderung vor allem von Schülern, aber auch in der Professionalisierung von angehenden und heutigen Lehrern.

Heutzutage ist vielfach von individueller Förderung die Rede: Sind die Lehrkräfte für dieses Maß an individueller Berücksichtigung entsprechend ausgebildet und die Schulen entsprechend ausgerüstet?

Die individuelle Förderung der Vielfalt von Schülern ist mittlerweile in den Schulgesetzen aller Bundesländer und oft auch in den Lehrerausbildungsgesetzen verankert. Dennoch mangelt es in vielen Schulen an adäquaten Förderformaten und in der Lehrerbildung an passenden Qualifizierungsansätzen, nicht zuletzt mit Blick auf das digital gestützte Lehren und Lernen. Auch dazu leisten Förderinitiativen des Bundes und der Länder wie ,Leistung macht Schule' oder ,Schule macht stark' sowie die ,Qualitätsoffensive Lehrerbildung' einen wichtigen Beitrag.

Dementsprechend gibt es bereits Programme, um mit begabten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen professionell umzugehen?

Schulen und weitere Bildungseinrichtungen bieten für begabte Kinder, Jugendliche und Erwachsene oft Formate des beschleunigten Lernens oder vertieften Lernens an. Diesbezüglich sind Schulen inzwischen deutlich kompetenter geworden, wozu spezielle ICBF-Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte einen wichtigen Beitrag geleistet haben.

Welche Forschungstrends zeichnen sich ab?

Im Fokus der internationalen Begabungsforschung steht zunehmend die nachhaltige Potenzial- und Talententwicklung über die Lebensspanne in den vielfältigen Domänen. Zudem ist in der Begabungs- und Begabtenförderung die Gestaltung einer wirksamen Lernumgebung bedeutsam, verbunden mit einer effektiven Professionalisierung von künftigen und heutigen  Lehrern.

Was planen die Universitäten Münster, Nijmegen und Osnabrück in den kommenden Jahren?

In der interdisziplinären Begabungsforschung widmen wir uns der nachhaltigen Potenzialentwicklung in verschiedenen Domänen. In der individuellen Begabungsförderung werden wirksame analoge und digitale Lernumgebungen für unterschiedliche Bildungsinstitutionen gestaltet. In der Lehrer-Professionalisierung werden effektive und digital gestützte Qualifizierungsformate zur Begabungsförderung und Potenzialentwicklung umgesetzt.

 

Zum Thema: 20 Jahre Begabungsforschung in Münster

Das ICBF wurde am 2. Februar 2001 durch den damaligen Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Wolf-Michael Catenhusen, und Prof. Dr. Franz J. Mönks von der Universität Nijmegen eröffnet - das ICBF feiert daher in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum. Die Wissenschaftler arbeiten auf den Gebieten der Begabungsforschung und Talententwicklung, Begabungs- und Begabtenförderung sowie Aus- und Weiterbildung im Bereich der Individuellen Förderung. Das 48-köpfige Team des ICBF untersucht unter anderem die Entwicklungsbedingungen begabter und talentierter Personen sowie die Umsetzung und Evaluation von adaptiven Diagnoseinstrumenten, Förderkonzepten und Beratungsansätzen.

7. Münsterscher Bildungskongress

Unter dem Motto „Potenziale erkennen, Talente entwickeln, Bildung nachhaltig gestalten“ findet vom 22. bis zum 25. September der 7. Bildungskongress in Münster statt. Bei dem diesjährigen Kongress unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Christian Fischer und Dr. Christiane Fischer-Ontrup beschäftigen sich die Teilnehmer mit der Frage: Wie können Forschungsansätze aus den Bereichen Begabten- und Begabungsförderung mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und dem damit verbundenen Aspekt der sozialen Verantwortung verbunden werden? Bis zum 21. Februar können sich Interessierte mit fachlichen Beiträgen im Rahmen des „Call for Papers“ bewerben.

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