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Münster (upm/hd)
Medizinhistorikerin Dr. Katharina Wolff avancierte zu Beginn der Corona-Krise zur gefragten Expertin. Ihre Doktorarbeit zur Pestbewältigung im Mittelalter schrieb sie am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der WWU.<address>© WWU - Stephan Höck</address>
Medizinhistorikerin Dr. Katharina Wolff avancierte zu Beginn der Corona-Krise zur gefragten Expertin. Ihre Doktorarbeit zur Pestbewältigung im Mittelalter schrieb sie am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der WWU.
© WWU - Stephan Höck

Aktuelles aus dem Mittelalter

Medizinhistorikerin Katharina Wolff warnte in ihrer Doktorarbeit bereits 2019 vor einer Seuche

Dass finalen Sätzen eine besondere Bedeutung beigemessen wird, ist verständlich. Ob in Reden von Politikern, Abschiedsworte in Briefen, Büchern oder Filmen, der Schlussakkord soll sitzen. Nicht auszudenken, wenn das Ende halbherzig und somit der Rest auf einen Schlag vergessen wäre. Diese Sorge muss sich die Medizinhistorikerin Dr. Katharina Wolff nicht machen. Ihre am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der WWU verfasste Doktorarbeit über die Pest-Bewältigung im Mittelalter schließt mit den letzten Worten aus Albert Camus' Roman "Die Pest". Darin beobachtet der Arzt Rieux Menschen, die die Tatsache feiern, dass die Pest besiegt ist. "Was für ein schönes Ende, nicht wahr", fragt Katharina Wolff. "Aber es geht noch weiter, denn Rieux weiß, dass das Pest-Bakterium niemals stirbt. Es könne geduldig in Kellern, Koffern oder Taschentüchern schlummern, jahrzehntelang."

Diese Sätze hallen nach in einer Zeit, in der das Coronavirus eine akute Bedrohung für die Weltbevölkerung ist. Das Besondere an Katharina Wolffs Warnung am Ende ihrer Dissertation ist, dass sie diese abschloss, bevor Covid-19 entdeckt wurde. "Ich hatte noch nie so ungern recht", sagt sie. "Ich habe immer gewarnt, dass Seuchen auch bei uns wieder aktuell werden können." So unerwartet die globale Gesundheitskrise samt gesellschaftlichen Auswirkungen für viele kam, die 41-Jährige war nicht überrascht.

Um zu verstehen, warum Katharina Wolff in der Corona-Krise zur medial gefragten Expertin avancierte, lohnt sich ein Blick in ihre Jugend. Mit 15 Jahren beeindruckte sie der Ebola-Ausbruch im Kongo so nachhaltig, dass sie ihn bis heute als prägend bezeichnet. "Man sah die kranken Menschen, die Zelte der Hilfsorganisationen, die Vollschutzanzüge. Tote wurden in Erdgruben geworfen – es war furchtbar anzusehen", erinnert sie sich. In ihr reifte die Neugier, mehr über Infektionskrankheiten zu erfahren: Was sie im Körper anrichten und welche sozio-kulturellen Folgen eine Seuche für das Umfeld hat.

Katharina Wolff machte als Jugendliche eine ehrenamtliche Ausbildung beim Roten Kreuz, half bei der Freiwilligen Feuerwehr und begann eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen Laborassistentin (MTA). Ein Medizinstudium sollte der nächste Schritt sein. "Damals habe ich nur auf dieses eine Ziel hingearbeitet", betont sie. Doch nach Ausbildung und nachgeholtem Abitur bekam sie keinen Studienplatz. Gefühlt ausgebremst arbeitete sie als MTA in einem Großraumlabor. "Das war industrielle Massenabfertigung und nicht das, was ich mir beruflich vorgestellt hatte", sagt sie. Nach einer ernüchternden Zeit ohne Studienplatzzusage entschied sie sich, den Traum vom Medizinstudium an den Nagel zu hängen. Sie suchte nach der nächstbesten Option und stieß auf die Mittelalterliche Geschichte.

Mit wachsender Begeisterung studierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zu diesem Zeitpunkt kehrte die Medizin unverhofft in ihr Leben zurück: Eine Professorin erfuhr von Katharina Wolffs medizinischem Hintergrund und ermunterte sie, eine Arbeit über die Syphiliserkrankung des Ritters Ulrich von Hutten zu schreiben. "Plötzlich spürte ich Rückenwind", sagt sie. Beflügelt durch die Rückkehr zu ihrem Herzensthema, den Infektionskrankheiten, entschied sie sich,zu promovieren. So führte ihr Weg an den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der WWU, zu Prof. Dr. Jan Keupp. An der Pestbewältigung im Mittelalter faszinierte sie die Ambiguität. "Heute wissen wir, dass es eine Infektionskrankheit ist, ausgelöst durch das Bakterium Yersinia pestis. Damals gab es viele Antworten", erklärt Katharina Wolff. Die Strafe Gottes, eine Verschiebung der Säfte im Körper oder ein Miasma, ein krankheitserregender Stoff in der Luft oder Erde – all diese Erklärungen seien gleichzeitig gültig gewesen.

Um zu erfahren, wie Menschen und Behörden vor fast 700 Jahren mit der Seuche umgingen, durchforstete Katharina Wolff 32 süddeutsche Pestschriften. Was sie dort fand, mögen manche als tragisch-komische Anekdoten abtun, beispielsweise die Versuche, der tödlichen Krankheit mit Magie beizukommen. Katharina Wolff widerspricht vehement: "Ich erzähle keine drolligen Geschichten von früher, die vermitteln, wie unwissend und unfähig die Menschen waren. Man half sich mittels der Erkenntnisse, die zu dieser Zeit galten."

Dass westliche Gesellschaften die Eventualität einer Pandemie unterschätzt haben, ist heute bittere Realität. Anfang 2020 stellte sich die Historikerin bei einer Professorin vor, die ihr sagte, man interessiere sich am Lehrstuhl nicht für Infektionskrankheiten. "Diesen Satz höre ich sicherlich nie wieder", sagt Katharina Wolff. Nicht nur wegen der bittersüßen Gewissheit, dass ihre Expertise derzeit sehr wohl gefragt ist, möchte sie zukünftig "als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Gesundheit fungieren." Die Kombination aus medizinischer Ausbildung und historischer Forschung sei rar gesät. "Ich spreche sowohl medizinisch als auch geisteswissenschaftlich und werbe für noch mehr Interdisziplinarität", betont sie. Ihre berufliche Zukunft sieht sie daher in der Politikberatung. "Ich sehe ein Kommunikationsproblem, weil wir Wissenschaftler Angst haben, Dinge allzu populär auszudrücken. Alles muss hochkomplex klingen." Das löse bei einem Großteil der Bevölkerung Unverständnis aus, so ließen sich keine Gräben überwinden. Aber historische Überlieferungen könnten dabei helfen: "Erkenntnisse darüber, wie Gesellschaften auf erschütternde Ereignisse wie Kriege und Seuchen reagierten, sind wertvoll", findet Katharina Wolff. Im Mittelalter habe es 150 Jahre gebraucht, bis eine erste Pest-Ordnung aufgestellt wurde. "Diese und folgende dienen heute als Vorlagen, auf denen unsere Maßnahmen aufbauen."

Denjenigen, die nicht glauben, dass die Geschichte einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie leisten kann, antwortet Katharina Wolff – wie in ihrer Dissertation – mit einem Satz, der nachhallt: "Die Geschichte zu ignorieren, ist so, als würden wir die teuerste und längste je gestartete Versuchsreihe ignorieren."

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 16. Dezember 2020.

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