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Münster (upm/bhe)
Transparente Flasche mit einer Flüssigkeit und einem Label (Symbolfoto)<address>© Unsplash - Vincent Ghilione</address>
Wissenschaft braucht Zeit. (Symbolfoto)
© Unsplash - Vincent Ghilione

Publikationsflut mit Folgen

Corona-Forschung wirkt sich auf Anzahl und Qualität von veröffentlichten Studien aus

Einige Fachleute reiben sich verwundert die Augen: Wer auf einmal alles zur Virologie oder Epidemiologie forscht – und wie schnell die Ergebnisse vorliegen. Dabei braucht Wissenschaft Zeit. Die Daten müssen nicht nur seriös erhoben, sondern ebenso akribisch geprüft werden. Forscherinnen und Forscher laden ihre Ergebnisse beispielsweise zur Überprüfung auf so genannten Preprint-Servern hoch. Bestenfalls erscheinen die neuen Erkenntnisse daraufhin in einer renommierten Fachzeitschrift, von Fachkollegen zuvor für gut befunden („Peer-Reviewed“).

Aktuelle Daten legen jedoch den Schluss nahe, dass mit der Vielzahl an Corona-Veröffentlichungen die wissenschaftliche Qualität sinkt. Nach Angaben des „Laborjournals“, das wiederum auf eine Metastudie aller COVID-19-Publikationen des ersten Halbjahrs 2020 verweist, mussten von 23.634 in „Web of Science“ und „Scopus“ veröffentlichten Studien 1,3 Prozent korrigiert oder zurückgezogen werden – trotz des vorgeschalteten Peer-Review-Verfahrens. Vor Ausbruch der Corona-Pandemie lag dieser Wert im Durchschnitt bei 0,04 Prozent. „Die wissenschaftliche Qualität darf unter diesem Tempo nicht leiden“, betont Prof. Dr. Monika Stoll, Prorektorin für Forschung an der WWU Münster.

Es sei tatsächlich eine „Schieflage bei Publikationen“ zu beobachten, sagt die Wissenschaftlerin. „Einerseits gibt es eine große Flut von COVID-19-Publikationen – teils mit minderer Qualität oder voreilig aus dem Ansinnen heraus publiziert, möglichst schnell Fortschritte zu machen.“ Auf der anderen Seite hätten Publikationen aus anderen Fachrichtungen insbesondere in den Lebenswissenschaften große Probleme, in den Review-Prozess aufgenommen zu werden. „Bisweilen verdoppeln oder verdreifachen sich die Begutachtungszeiten“, beobachtet Monika Stoll. Zudem stünden immer weniger Wissenschaftler für die Prüfung solcher Publikationen zur Verfügung. „Manchmal werden sogar Promovierende im ersten Jahr zur Begutachtung von Manuskripten angefragt.“ Das trage nicht zu einem ausgewogenen „Peer-Review“-Prozess bei, da ihnen die Erfahrung fehle.

Auch Tim Skern, Chefredakteur von „Archives of Virology“, beklagt dem „Laborjournal“ zufolge die „Überflutung“ mit Veröffentlichungen. Von 200 einschlägigen Einreichungen hätten viele nicht den Standards entsprochen. „Bis heute haben wir nur ungefähr 20 davon veröffentlicht.“

Üblicherweise vergingen von der Einreichung bis zur Publikation mehrere Monate bis zu einem Jahr, erläutert Monika Stoll, die am Institut für Humangenetik in der Abteilung Genetische Epidemiologie forscht. Fragen Gesellschaft und Politik nach schnellen Entscheidungshilfen aus der Wissenschaft, sei die Verlockung groß, Zwischenergebnisse zu formulieren oder erste Schlussfolgerungen zu ziehen. Alternativ klopfen findige Bürger die Preprint-Seiten im Netz auf neue, noch nicht überprüfte Studienergebnisse ab. Egal wie vorsichtig man damit umgeht, es bestünde immer die Gefahr, dass jemand daraus einige knackige anti-wissenschaftliche Parolen stricke. „Dann bekämen wir langfristig ein Glaubwürdigkeitsproblem“, warnt Monika Stoll.

Gehört also das System des wissenschaftlichen Publizierens auf den Prüfstand? Wie Oliver Obst von der Zweigbibliothek Medizin (ZBMed) bereits im Frühjahr in einem Blogbeitrag über „Fehlentwicklungen im Peer-Review in der Coronavirus-Krise“ vermutete, wäre die Pandemie in diesem Fall nicht ursächlich für die Schwächen der Praxis. Vielmehr mache die Krise bereits bestehende Probleme nur sichtbarer, wie es in anderen gesellschaftlichen Bereichen ebenfalls zu beobachten sei – beispielsweise Missstände im Gesundheitswesen. Auch Oliver Obst ist über die hohe Zahl einschlägiger Publikationen in den vergangenen Monaten beunruhigt. „Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie werden Studien in diesem Zeitraum im Durchschnitt schneller als üblich veröffentlicht.“

Ob dieser Anstieg ebenfalls in den Publikationslisten von WWU-Wissenschaftlern zu sehen ist, darüber gibt es laut Dr. Sebastian Herwig von der WWU-Abteilung für Forschungsinformationen bislang keine belastbaren Zahlen. Valide könne man diesen Zusammenhang aufgrund unterschiedlicher Zeitabstände zwischen der Einreichung und Veröffentlichung allenfalls im Rückblick feststellen. „Das Interesse, die Krise mithilfe der Wissenschaft möglichst rasch zu bewältigen, ist groß“, so Monika Stoll. „Für alle Forschungsarbeiten aus der WWU gilt jedoch nach wie vor selbstverständlich unser Ehrenkodex mit den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis.“

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 11. November 2020.

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