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Münster (upm/jah)
Umweltgifte und Smog in Großstädten führen bei Menschen nicht automatisch zu Krankheiten. Wichtig ist vor allem die Fähigkeit, mit solchen Belastungen umzugehen.<address>© Dimitry Anikin on Unsplash</address>
Umweltgifte und Smog in Großstädten führen bei Menschen nicht automatisch zu Krankheiten. Wichtig ist vor allem die Fähigkeit, mit solchen Belastungen umzugehen.
© Dimitry Anikin on Unsplash

"In Ländern mit wenig sozialer Ungleichheit sind die Menschen am gesündesten"

Stadtgeographin Iris Dzudzek erforscht den Zusammenhang von Urbanität und Wohlergehen

Zehn Jahre: So groß ist der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der ärmsten und reichsten Einkommensgruppe in Deutschland laut einer Studie des Robert Koch-Instituts und DESTATIS aus dem Jahr 2017. Juniorprofessorin Dr. Iris Dzudzek forscht seit 2018 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) zu Gesundheit in Städten. Im Interview mit Jana Haack erläutert sie, welche Ursachen hinter dieser Ungleichverteilung stecken, wie die Stadtgeographie helfen kann und welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf Gesundheitsgerechtigkeit hat.

Sind vor allem Armut oder fehlende Bildung für Krankheit und einen früheren Tod verantwortlich oder steckt noch etwas Anderes dahinter?

Natürlich können Armut, fehlende Bildung, Diskriminierung, Schimmel in der Wohnung und andere Umweltgifte krankmachen. Allerdings sind Menschen unterschiedlich resilient gegenüber Gesundheitsgefährdungen. Darunter versteht man die unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit von Menschen, mit Belastungen umzugehen. Mit dem Ansatz einer sogenannten Kritischen Sozialepidemiologie verweise ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen darauf, dass diese Resilienz entlang sozialer Unterschiede und damit verbundener gesellschaftlicher Verhältnisse sehr ungleich verteilt ist: Menschen in stabilen sozialen Netzwerken, mit finanziellen Ressourcen und einem guten Zugang zu Bildung und entsprechendem ‚Gesundheitswissen‘ können ihre Lebenschancen häufig besser verwirklichen als Menschen in prekären Verhältnissen. Das bedeutet, Krankheit ist nicht nur ein individuelles Leiden, sondern auch eine soziale Frage. In diesem Sinne verstehen wir Gesundheit als eine gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe. Der individuellen Krankheitsprävention sollte stärker als bisher eine strukturelle Prävention zur Seite gestellt werden.

Wie kann diese strukturellen Prävention aussehen?

Strukturelle Prävention setzt idealerweise auf Ebene von Stadtquartieren an, denn sie sind klein genug, um die Zusammenhänge von individuellen Lagen und Problemen, unmittelbaren Umwelteinflüssen und gesellschaftlichen Verhältnissen wie Diskriminierungserfahrungen oder prekären Wohnverhältnissen in einen Zusammenhang zu bringen. Gleichzeitig sind Stadtteile groß genug, um Gesundheit als gesellschaftliches Thema zu betrachten sowie die soziale Dimension von Gesundheit sichtbar zu machen und neu auszuhandeln. Hier kommt mein Forschungsbereich, die Kritische Stadtgeographie, ins Spiel. Stadtgeographinnen und Stadtgeographen kennen die unterschiedlichen Akteure, die in der Stadt aktiv sind und haben in ihrem Studium gelernt, auch scheinbar weit entfernte Herausforderungen wie Lockerungen von Arbeitsmarktregulierungen in Zusammenhang mit lokalen Problemen zu bringen. Sie verfügen gleichzeitig über gesellschaftstheoretische Ansätze, um diese Zusammenhänge erklären zu können. Damit sind sie beispielsweise als Quartiersmanager geeignet, Betroffene und Ärzte aber auch Umweltwissenschaftler und Stadtplaner zusammenzubringen, um gemeinsam mit Ihnen Konzepte der strukturellen Prävention im Stadtteil und darüber hinaus zu entwickeln. Mit der Kritischen Sozialepidemiologie entwickeln wir gewissermaßen einen ‚Blick zweiter Ordnung‘ auf die Machtverhältnisse, die die Verwirklichung von Lebenschancen in der Stadt prägen.

Zeichnet diese Verwirklichung von Lebenschancen eine gesundheitsgerechte Stadt aus?

Ja, eine gesundheitsgerechte Stadt ermöglicht es allen Menschen ungeachtet ihrer Herkunft oder ihres ökonomischen Status, ihre Lebenschancen zu verwirklichen. Sie ermöglicht Zugang zu medizinsicher Versorgung, stabile und lebenswerte Wohnverhältnisse, abgesicherte Arbeitsverhältnisse und soziale Angebote für all ihre Bewohner. Der Aufbau einer gesundheitsgerechten Stadt erfordert das Zusammenwirken verschiedenster Lebens-, Forschungs- und Politikbereiche. Er ist eine langwierige Strukturaufgabe. Schnelle Politik- und Wahlerfolge lassen sich damit nicht erzielen. Zudem ist für die Frage der Gesundheitsgerechtigkeit weniger entscheidend, wie reich ein Land ist, sondern wie ungleich Reichtum verteilt ist. Studien zeigen, dass jene Länder in puncto Gesundheit am schlechtesten abschneiden, in denen die Schere zwischen arm und reich weit auseinandergeht. In Ländern mit wenig sozialer Ungleichheit sind die Menschen am gesündesten. Inwiefern diese Differenz sozialstrukturelle und sozial-ökologische Ursachen zurückzuführen ist und welche Handlungsoptionen es in dieser Hinsicht auf der Ebene von Städten und Stadtquartieren gibt, das muss stärker erforscht werden. Es besteht aber Grund zur Hoffnung, dass Covid-19 ein nachhaltiges Bewusstsein dafür schafft, wie wichtig es ist, in Sachen Gesundheit ‚alle mitzunehmen‘. Der massenhafte Ausbruch des Virus in der Fleisch- und Logistikbranche hat gezeigt, wie schnell beispielsweise prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu einem Gesundheitsrisiko für die gesamte Gesellschaft werden können.

Wie ungerecht ist die Gesundheitsversorgung in Zeiten der Corona-Pandemie?

Zunächst macht das Virus keinen Unterschied, wen es trifft. Aber soziale und ökonomische Unterschiede sorgen dafür, dass das Virus Menschen ungleich trifft. Dass Covid-19 unverhältnismäßig häufig ethnische Minderheiten trifft, arbeitet beispielsweise eine Studie heraus, die bereits Anfang Mai veröffentlicht wurde. Es zeigt sich, dass nicht nur Risikogruppen häufiger von Covid-19 betroffen sind, sondern vor allem solche Menschen, die sich nicht schützen können oder einen schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Mit der Kritischen Stadtgeographie beleuchten wir, welche Strukturen das Virus erst zu einer Krise gemacht haben. Das Vordringen von Städten und kapitalistische Produktions- und Verwertungsketten führen zu einem immer engeren Kontakt zwischen Wildtierpopulationen und industrieller Land- und Viehwirtschaft. Das ermöglicht Infektionskrankheiten wie dem Corona-Virus, die vom Tier auf den Menschen übertragbar sind, sehr viel schneller zu zirkulieren und zu einer globalen Bedrohung werden zu können. Die Kritische Stadtgeographie schaut auch auf die zunehmende Ökonomisierung von Gesundheit, prekäre Arbeitsverhältnissen und auf Strukturen von Diskriminierung beispielsweise auf dem Wohnungsmarkt, die die Gefahr an Covid-19 zu erkranken, erhöhen.

Welche andere Möglichkeit haben wir mit dem Virus umzugehen?

Hier können wir aus Erfahrungen im Umgang mit anderen Epidemien wie HIV oder SARS aus anderen Ländern in Asien, Lateinamerika oder Afrika lernen, dass es sehr wichtig ist, die Menschen im Umgang mit der Pandemie von Anfang an offen und proaktiv mitzunehmen. Dies gelingt beispielsweise durch lokale Gruppen, in denen Menschen gemeinschaftlich und demokratisch nach Wegen suchen, wie sie die Netzwerke des Lebens, die ihren Alltag aufrechterhalten, unter den Bedingungen einer Epidemie organisieren und sich gleichzeitig selbst durch Abstand und Hygiene schützen können. Wie können wir sicher auf engem Raum zusammenleben? Wie können wir Menschen sicher beerdigen und trotzdem Trost spenden? Wie können wir uns sicher versorgen, wenn wir nicht das Geld haben bei Amazon, Zalando und Lieferando zu bestellen? Wie können wir Ressourcen und Freiräume teilen? Hier zeigen Erfahrungen von Gemeinwohl-Initiativen aus Asien, Afrika und Lateinamerika, dass Schutz vor Epidemien langfristig nicht ohne die Achtung von Menschenrechten sowie die Vermeidung von Stigmatisierung und Diskriminierung zu haben ist. Solche Fragen sind zentral für unser zukünftiges Leben in der postpandemischen Stadt.

Dieses Interview gehört zu einem Artikel aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 14.Oktober 2020.

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