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Münster (upm/kk)
Das X aus Cortenstahl, gestaltet von Lena Sandfort, erinnert an das Leid der Häftlinge.© Wilhelm Bauhus
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Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Die Rolle von "Citizen Science" am Beispiel eines geschichtswissenschaftlichen Forschungsprojekts

Ein großes X aus Metall inmitten des Teutoburger Walds bildet das symbolische Ende eines fast neunjährigen Projekts. Der große Buchstabe steht stellvertretend für verschwundene oder vergessene Orte, sogenannte X-Orte, im Münsterland. Einer dieser Orte ist der alte Eisenbahntunnel in Lengerich im Tecklenburger Land. Während des Nationalsozialismus‘ war dort unter dem Tarnnamen „Rebhuhn“ ein geheimes Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme bei Hamburg untergebracht. Zwischen 1944 und 1945 fertigten mehr als 200 männliche Häftlinge in rund 700 Meter langen unterirdischen Röhren Rüstungsgüter an. 20 Häftlinge kamen dabei zu Tode, mindestens 14 von ihnen wurden ermordet.

Die Geschichte des Tunnels wurde 2011 im Rahmen der „Expedition Münsterland“ der Arbeitsstelle Forschungstransfer (AFO) der WWU erkundet. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Tunnelgeschichte übernahmen Dr. Sabine Kittel vom Historischen Seminar der WWU und Thomas Köhler vom Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster in einem Hauptseminar gemeinsam mit Studierenden. „Uns war von Anfang an klar, dass der Tunnel sehr bedeutend für die regionale, deutsche und europäische Geschichte ist und als vielschichtiger Erinnerungsort erhalten bleiben muss. Genauso klar war uns, dass wir ohne die Zusammenarbeit mit den Bürgern aus Lengerich nicht so weit mit unserer Forschung kommen würden wie mit klassischer Archivarbeit“, erinnert sich Thomas Köhler.

Derzeit wird die Beteiligung von Bürgern an wissenschaftlichen Prozessen unter dem Stichwort „Citizen Science“, zu Deutsch Bürgerwissenschaft, breit diskutiert. Im Zentrum stehen dabei die kooperative Wissenschaft und die professionelle Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen akademischen Forschern und Laien. So auch in Lengerich. „Wir haben vom freiwilligen Engagement vieler Lengericher, unter anderem des Vereins der Eisenbahnfreunde Lengerich, sehr profitiert. Zudem haben wir viel Akzeptanz und Verständnis seitens der Bevölkerung für unsere Forschung erfahren“, sagt Thomas Köhler.

Bei dem Projekt gehe es nicht um die Skandalisierung des Ortes, „sondern um die historische Erkundung des Tunnels als authentischer Erinnerungs- und Denkort“, ergänzt AFO-Leiter Dr. Wilhelm Bauhus. Durch gezielte Informationen und Aufrufe in der Tageszeitung unter dem Motto „Wer weiß noch was?“ erfuhren viele Menschen in Lengerich und Umgebung von dem Projekt. Dr. Alois Thomes, Vorsitzender des Heimatvereins Lengerich, erinnert sich noch gut an diese Zeit. „Viele Bürger hatten großes Interesse daran, an dem Projekt mitzuwirken und Informationen bereitzustellen. Als Heimatverein haben wir eine Verpflichtung gegenüber unserer Geschichte und der Vergangenheit.“

Das AFO-Projekt ist ein gutes Beispiel für einen entsprechenden Trend. Einer repräsentativen Umfrage des Wissenschaftsbarometers 2019 zufolge kann sich jeder zweite Deutsche vorstellen, die Forschung zu unterstützen beziehungsweise selbst aktiv mitzuhelfen. Die Möglichkeiten von Citizen Science sind dabei vielfältig: von der Entwicklung der Forschungsfragen über die Ausgestaltung der Methoden, Erhebung und Analyse der Daten bis hin zur Kommunikation der Ergebnisse. Aus Sicht der Befürworter einer Öffnung der Wissenschaft ist Citizen Science das Mittel, um die Wissenschaft demokratischer und Forschungsergebnisse „sozial robuster“ zu machen. Kritiker der Bürgerwissenschaft hingegen sprechen von der „Deprofessionalisierung der akademischen Forschung“ und warnen vor einem möglichen Qualitätsverlust.

Für das Tunnelprojekt in Lengerich trifft der Verlust an wissenschaftlicher Qualität keineswegs zu. „Ohne die Bereitstellung von Dokumenten, ohne die Hinweise der Verbände und Vereine und ohne die Interviews mit Zeitzeugen vor Ort hätten wir keine so gute Quellengrundlage für unsere historischen wissenschaftlichen Untersuchungen gehabt“, bekräftigt Thomas Köhler. Vor allem Forschungsprojekte im Bereich der Geschichtswissenschaft sind auf die Zusammenarbeit mit Bürgern angewiesen. Unter dem Begriff „Public History“ wird bereits seit den 1970er-Jahren das enorme Potenzial beschrieben, das öffentliche Akteure für die Wissenschaft haben. „Unsere Erfahrungen zeigen, dass vor allem Projekte, die sich mit der NS-Vergangenheit beschäftigen, zahlreiche gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Debatten über den Nationalsozialismus angestoßen haben“, sagt Wilhelm Bauhus, der in den vergangenen Jahren viele bürgerwissenschaftliche Projekte begleitet hat. Ganz im Sinne dieser Public History erarbeiteten die Experten eine Wanderausstellung, die zahlreiche Interessierte in Lengerich, in Schulen und in NS-Gedenkstätten wie der Villa ten Hompel und der KZ-Gedenkstätte Neuengamme besuchten.

Das Projekt fand seinen offiziellen Abschluss 75 Jahre nach der Befreiung des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar dieses Jahres. Das symbolische X und eine Informationstafel in der unmittelbaren Nähe des Tunnels erinnern an seine Geschichte. Mehrere hundert Personen waren bei der Eröffnung dabei. „In Lengerich ist eine neue Erinnerungskultur entstanden, die für die Bürger und die gesamte Gemeinde identitätsstiftend war“, sagt Alois Thomes. „Die Erfahrungen und die Zusammenarbeit mit der WWU über die vergangenen Jahre machen Lust auf mehr – Lengerich hat noch viel zu erzählen.“

 

Citizen Science an der WWU

 

Die WWU verfügt über langjährige Erfahrung mit vielfältigen Citizen-Science-Projekten. Die WWU-Citizen-Science-AG stärkt den Stellenwert des bürgerwissenschaftlichen Engagements und sensibilisiert für das Citizen-Science-Potenzial in Forschungsprojekten. Um das Thema an der Universität strategischer auszurichten, erarbeitet die AG Leitlinien und Kriterien für Bürgerwissenschaft. Zudem beraten die AG-Mitglieder das Rektorat und sind Ansprechpartner für Wissenschaftler und Bürger.

Um weitere Citizen-Science-Projekte anzuregen, schreibt die Universität in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal den von der Stiftung WWU finanzierten Citizen-Science-Wettbewerb aus. Ab sofort können sowohl neue als auch bereits bestehende Projekte sich für eine Förderung bewerben, bei denen WWU-Wissenschaftler gemeinsam mit Bürgern zu einem konkreten Thema forschen. Gefördert werden zwei Arbeiten mit einer Summe von je 7.500 Euro und einer frei wählbaren Laufzeit von bis zu zwei Jahren.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 8. April 2020

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