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Münster (upm)

Seuchen sind die sozialsten aller Krankheiten

Gastbeitrag von Prof. Dr. Malte Thießen

Prof. Dr. Malte Thießen<address>© LWL - Kathrin Nolte</address>
Prof. Dr. Malte Thießen
© LWL - Kathrin Nolte

Seuchen sind immer. Schon für die Antike stoßen wir auf dramatische Schilderungen großer Epidemien. Besonders berüchtigt sind die Pestzüge des Mittelalters oder die „Spanische Grippe“ 1918/19, die wegen ihrer bis zu 50 Millionen Opfer mittlerweile zur „Mutter aller Pandemien“ erklärt wird. Solche Ereignisse lassen schnell vergessen, dass wir auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute immer wieder mit Seuchen zu tun haben. Von den Diphtherie- und Polioausbrüchen in den 1950er und 1960er Jahren über AIDS/HIV in den 1980er Jahren bis hin zu Ebola und Sars in der jüngeren Zeit sind Seuchen unsere ständigen Begleiter geblieben. Umso erstaunlicher ist die Überraschung, mit der insbesondere westliche Gesellschaften auf Seuchenausbrüche reagieren. Warum scheinen wir so wenig auf den Seuchenfall vorbereitet zu sein? Warum gelten Seuchen als ein dunkles Kapitel längst vergangener Zeiten?

Die Antwort auf diese Fragen hängt untrennbar mit dem medizinischen Fortschritt zusammen. Noch in den 1960er Jahren waren Infektionskrankheiten im Alltag der Bundesdeutschen Normalität. „Kinderkrankheiten“ waren lange Zeit eben keine Verniedlichung, sondern Ausdruck der Allgegenwart von Seuchen mit vielen Opfern - gerade unter den Jüngsten. Dank Impfprogrammen und Therapeutika leben wir heute im Zeitalter der Immunität. Wir haben die Vorstellung verinnerlicht, dass wir vor Infektionskrankheiten weitgehend sicher sind. Auf den Punkt gebracht: Wir sind ein Stück weit Opfer unserer medizinischen Erfolge, die uns in falscher Sicherheit wiegen.

Das plötzliche Interesse an der Seuchengeschichte, das sich in den letzten Wochen in der medialen Berichterstattung niederschlägt, lässt mein Herz als Historiker sofort höher schlagen: Die Relevanz der Geisteswissenschaften für die Einordnung und Versachlichung von Debatten liegt damit auf der Hand. Allerdings birgt der Hype um die Seuchengeschichte auch Gefahren. Dass selbst angesehene Virologen die „Spanische Grippe“ momentan als Referenz für Covid 19 heranziehen und entsprechende Ängste schüren, zeigt die Gefahr historischer Analogien besonders deutlich. In der Coronakrise verkommt Geschichte schnell zur Grabbelkiste, aus der man sich für aktuelle Auseinandersetzungen mit passenden Argumenten bedient. Historiker sind in Seuchenzeiten daher besonders gefragt, um vorschnelle Analogiebildungen zu hinterfragen. Mag der Virus von 1918/19 auch Ähnlichkeiten mit heutigen Viren aufzeigen – der gesellschaftliche und gesundheitliche Kontext war ein fundamental anderer. Wir müssen Seuchen also in ihren historischen Kontext stellen, um gegenwärtige Debatten zu versachlichen – und den Blick frei zu machen für die eigentlichen Probleme der Gegenwart. Die Gefahr von historischen Analogien und Gleichsetzungen bedeutet allerdings nicht, dass sich aus der Seuchengeschichte nichts lernen ließe.

Erstens lässt sich in historischer Perspektive der Praxis des „Otherings“ nachspüren. Damit meine ich, dass Seuchen gern auf das „Fremde“ projiziert werden – die Seuche sind immer die Anderen. Beim Ausbruch von Seuchen macht sich das zunächst in nationalen Zuschreibungen bemerkbar, wie etwa bei der „Spanischen Grippe“, bei der „französischen Krankheit“, der „Hongkong-Grippe“ oder aktuell beim „Wuhan-Virus“, „made in China“, wie ein deutsches Nachrichtenmagazin titelte. Wenn die Seuche in der Gesellschaft ankommt, sind es meist die Anderen vor Ort, die als Gefahr gelten. „Randgruppen“ wie Schwule, Prostituierte oder Menschen mit Migrationshintergrund. In den 1980er Jahren wird das beispielsweise im Umgang mit der „Schwulenpest“ deutlich, wie AIDS/HIV in der Presse bezeichnet wurde. Vor einigen Wochen ließen sich hingegen Ausgrenzungen von Menschen mit asiatischem Aussehen beobachten. Das Othering, also das „Fremd-machen“ von Infektionskrankheiten, ist jedoch nicht nur ein gravierendes Problem für die Ausgegrenzten. Es ist ein ebenso großes Problem für die gesamte Gesellschaft: „Othering“ befördert die Wahrnehmung, dass die Seuche nichts mit uns zu tun habe, so dass wir für Gesundheitsgefahren blind werden.

Ein zweiter Punkt, der sich aus der Seuchengeschichte lernen lässt, ist die Verhältnismäßigkeit von Bekämpfungsmaßnahmen. Aktuelle Debatten um die Einschränkung von Grundrechten sind keineswegs neu. Schon im Kaiserreich ging es beim Kampf um Seuchen immer auch um die Grundsatzfrage, was wichtiger sei: Sicherheit oder Freiheit? Anlass waren beispielsweise Quarantänemaßnahmen, die auch im 18. und 19. Jahrhundert wirtschaftliche Krisen beförderten. Ein anderer Anlass waren Zwangsmaßnahmen gegen Einzelne, zum Beispiel Isolationen oder Zwangsimpfungen. Unterm Strich zeigt die Geschichte zumindest des 20. Jahrhunderts eines deutlich: Aufklärung und Partizipation sind meist effektiver als Anordnungen und Repressionen. Die Vorstellung vom starken Staat, der in der Seuche durchregiert, ist ein Traum beziehungsweise Albtraum der Moderne, der selten zum Erfolg führte. Da Seuchen immer die ganze Gesellschaft treffen, ist eine Eindämmung umso effektiver, wenn alle mitmachen. Aufklärung und Informationen erhöht die Bereitschaft der Bevölkerung, ihr Verhalten auf die neue Situation einzustellen.

Eine dritte Lehre aus der Seuchengeschichte ist Globalität. Seuchen machten noch nie vor nationalen Grenzen halt. Diese Erkenntnis führte schon im 19. Jahrhundert zu internationalen Kooperationen im Kampf gegen die Seuche. Seit dem Zweiten Weltkrieg trieb die WHO globale Impfprojekte voran – im Übrigen oft erfolgreich. Die Pocken wurden beispielsweise Ende der 1970er Jahre – und damit während des Kalten Krieges – durch ein globales Impfprogramm ausgerottet. Wenn wir uns heute all die Einzelkämpfer gegen Corona ansehen, kann man sich nur wünschen, dass wir auch in dieser Hinsicht aus der Seuchengeschichte lernen: Isolationismus, Abschottung und Grenzziehungen durch Nationalstaaten sind definitiv das falsche Mittel im Kampf gegen Pandemien.

Der Kampf gegen Seuchen, auch das lehrt uns die Seuchengeschichte, ist eine Frage von Kosten-Nutzen-Relationen, so zynisch das angesichts oft hoher Todeszahlen klingen mag. Momentan diskutieren wir dieses Spannungsverhältnis an der Frage, ob die wirtschaftlichen Nachteile des „Lockdown“ nicht größer sind als die medizinischen Vorzüge. Insofern ist die Frage nach den Kosten-Nutzen-Relationen immer auch eine Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft. In Deutschland setzte in den 1920er Jahren eine Vermarktlichung von Impfprogrammen ein. Seither übertrugen staatliche Einrichtungen Unternehmen beispielsweise die Verantwortung für die Entwicklung von Impfstoffen. Die beginnende Privatisierung des öffentlichen Gesundheitswesens seit den 1970er Jahren trug zwar zur Konsolidierung der staatlichen Finanzen bei. In Krisenzeiten wie der heutigen steht damit allerdings immer wieder die Frage im Raum, wieviel Sozialstaat wir uns leisten sollten bzw. müssen.

Fünftens gehen Meldungen über Seuchen heute dank digitaler Medien viral. Zwar kursierten schon in früheren Zeiten Gerüchte oder Gruselmeldungen, mit denen die Presse ihre Auflage erhöhte. Heute ist Kommunikation allerdings erheblich schneller. Während früher das Virus häufig vor der Meldung ankam, können wir heute in Echtzeit global kommunizieren. Vor diesem Hintergrund wird zurzeit vor allem der Social-Media-Bereich als Problem angesehen, da hier Fake-News und Verschwörungstheorien besonders gut gedeihen. In historischer Perspektive überwiegt hingegen die Gelassenheit: Verschwörungstheorien und Falschmeldungen (Fake news) kursierten schon in der Antike, sie wurden früher nur weniger gut dokumentiert als heute. Gelassenheit scheint mir auch wegen neuer Chancen das Gebot der Stunde zu sein: Digitale Kommunikation eröffnet uns zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit, auf Fake news und Verschwörungstheorien sofort zu reagieren um diese einzuordnen und zu entlarven. Eine Kontrolle von Kommunikation, gerade im Ausnahmezustand ein Herzenswunsch staatlicher Akteure, war hingegen schon in früheren Zeiten unrealistisch – im Übrigen selbst in der NS-Zeit, die ja bekanntlich besonders perfide Kontrollmöglichkeiten eröffnete.

Ein Fazit aus der Geschichte könnte also lauten: Seuchen sind die sozialsten aller Krankheiten. Sie treffen nie nur den Einzelnen, sondern immer die Gesellschaft als Ganzes. Beim Umgang mit Seuchen geht es daher nicht nur um Gesundheit oder Krankheit, um Leben oder Tod, sondern um die Grundsätze unserer Gesellschaft. Auch deshalb scheint mir in der Coronakrise eine Chance zu liegen: Weil wir diskutieren müssen, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben möchten. Für solche Diskussionen brauchen wir die Seuchengeschichte – als Appell zur Versachlichung unserer Gegenwart.

Prof. Dr. Malte Thießen ist Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) und Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte.

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