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Frage nach dem Selbst im "Kitāb al-Mawāqif" des ʿAbd al-Ǧabbār an-Niffarī

Eines der Hauptziele dieses Projektes ist die Erstellung von wissenschaftlichen Publikationen, die die wichtigsten Aspekte der vorliegenden Forschung erkenntnistheoretisch und systematisch präsentieren würden.

Der erste Band, für den Dr. Raid Al-Daghistani im Rahmen seines Habilitationsvorhabens zuständig ist, soll sich ausführlich der Frage nach dem Selbst in der islamischen Mystik vor dem Hintergrund des Werkes "Kitāb al-Mawāqif" („Das Buch der mystischen Standplätze“) des ʿAbd al-Ǧabbār an-Niffarī (gest. 965) widmen. Der vorliegende Band soll neben der theoretischen Auseinandersetzung auch eine Teil- bzw. komplette deutsche Übersetzung des Werkes liefern. Diese soll mit einer Einleitung zum Leben, Werk und Schreibstil des Autors sowie mit einem technischen Vokabular versehen werden. Die kommentierte Übersetzung dieses Werkes ist für die islamische Theologie von großer Bedeutung, insofern es einen einzigartigen Einblick in die Innerdynamik zwischen Gott und dem Menschen gewährt, indem der stufenartige und erkenntnisreiche mystische Aufstieg der Seele zum göttlichen Urgrund eine zentrale Stellung einnimmt.

Das Kitāb al-Mawāqif ist ein literarisches Meisterwerk der islamischen Mystik, das von späteren Sufis wie Ibn ʿArabī (gest. 1240) und at-Tilimsānī (gest. 1291) eifrig studiert wurde. Die Originalität dieses Werkes – das bisher ins Englische, Französische, Schwedische und Türkische übersetzt wurde – besteht darin, dass es eine bemerkenswerte Sammlung tiefindividueller, innerer Gotteseingebungen darstellt, die der Autor in 77 Kapiteln mit großer poetischer Subtilität zum Ausdruck bringt. Das Werk zeichnet sich durch eine äußerst präzise, wenn auch enigmatische Sprache aus, mit welcher der Autor die Mysterien seiner tiefgründigen Zwiegespräche und inneren Begegnungen mit dem immanent-transzendenten Gott zu lüften versucht. Außerdem hebt sich dieses Werk inhaltlich von anderen Schriften der islamischen Mystik dadurch ab, dass hier eine neue Kategorie innerhalb der sufischen Spiritualität eingeführt wird, nämlich das Konzept von mawqif (pl. mawāqif), das als „mystischer Standplatz“ übersetzt werden kann und mit dem ein transzendentes, metaphysisches Erkenntnis- bzw. Erlebnismoment gemeint ist. Hier wird der eine Gott zu der unmittelbaren Quelle der Inspiration und Erkenntnis. Jeder einzelne mawqif zeugt von einer wahrhaftigen Kommunikation und Begegnung mit der Transzendenz; jeder Standplatz wird somit zu einer Wirklichkeitserfahrung, in der sich der absolut transzendente Gott zugleich als die innerste Anwesenheit der Seele manifestiert.

Wie lässt sich das Selbst in der Dialektik zwischen dem Menschlichen und Göttlichen überhaupt begreifen? Worin besteht die letzte Wirklichkeit des Selbst des Menschen, wenn dieser auf seinem mystischen Pfad zur Aufhebung desselben anstrebt? In welchem Verhältnis steht eigentlich das menschliche Selbst gegenüber dem göttlichen Selbst und was bedeutet dieses Verhältnis für die Selbstauffassung des Menschen im Angesicht des Unendlichen? Inwiefern stellt das mystische Entwerden-in-Gott die Bedingung des wirklichkeitshaften Bestehens-durch-Gott? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Gnosis, Liebe und Ekstase? Und wie lassen sich solche Erfahrungen überhaupt adäquat sprachlich vermitteln? Diese sind nur einige Fragen, die in diesem Band aufgrund des Werkes des ʿAbd al-Ǧabbār an-Niffarī ausführlich untersucht werden sollen.