

Umfang/Maße: zwei Seiten, 14 x 37,5 cm und 13 x 34 cm
Material: Tinte auf Pergament
Datierung: vermutlich 2. oder 3. Jahrhundert n. H. / 9. oder 10. Jahrhundert n. Chr.
Stil: Kūfī
Illuminationen: keine
Provenienz: 1973 von Dr. Norbert Heinrich Holl in Kairo erworben, seit 2018 als Schenkung in der Institutssammlung
Starker Tintenfraß
Format: ca. 34 cm x 13 cm
Textstelle: Sure 5, 12-13 (Tintenfraß)
Leichter Tintenfraß
Format: ca. 37,5 cm x 14 cm
Textstelle: Recto: Sure 10, 103-105
Verso: Sure 10, 98-100
Koranmanuskripte aus frühislamischer Zeit stellen die aktuelle Forschung hinsichtlich einer präzisen Datierung und Lokalisierung vor große Schwierigkeiten. Wenngleich Kolophone vermutlich bereits in früher Zeit in Koranhandschriften verwendet wurden, stammen die ältesten in Koranen erhaltenen Beispiele dieser Notierungen von Entstehungsdatum und Urheber der Kopie aus dem zehnten Jahrhundert. Eines der wenigen Hilfsmittel zur Datierung sind waqfiyyāt, juristische Urkunden, die etwa dann ausgestellt wurden, wenn ein Koran in den Besitz einer Moscheegemeinschaft überging. Zeugnisse dieser Art tauchen jedoch frühestens im neunten Jahrhundert auf und bilden kein zuverlässiges Beweismittel, da die Manuskripte bereits einige Zeit vor Ausstellung der Urkunde entstanden sein können. In Fragmente zersplittert befinden sich heutzutage außerdem die meisten der vor 1000 n. Chr. entstandenen Kodices in Sammlungen und Galerien über die gesamte Welt verstreut. Eines der berühmtesten und prachtvollsten Beispiele hierfür ist der sogenannte Blaue Koran aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert (Beispiel: Folio aus dem Blauen Koran).
Bei unserem Koranfragment handelt es sich also nicht nur um eines der ältesten, sondern zugleich auch rätselhaftesten Objekte der Institutssammlung. Die beiden Pergamentseiten unbekannter Herkunft sind im kufischen Stil mit Versteilen aus Sure 10 Yūnus, Vers 104 – 106 und 98 – 100, sowie Sure 5 al-Māʾida, Vers 12 – 13, beschrieben. Da das Objekt weder Illuminationen an den Seitenrändern noch markante Hervorhebungen innerhalb des Textkörpers aufweist, hebt es sich von anderen Koranmanuskripten der Sammlung durch seine Schlichtheit ab. Lediglich die bräunlich erscheinenden Buchstaben (Tinte oder Tusche) schmücken die Blätter, welche von deutlichen Alters- und Gebrauchsspuren, insbesondere auf der zweiten Seite, gezeichnet sind. Mittels winziger schraffierter Linien sind zudem die einzelnen Verse voneinander abgetrennt. Auch die diakritischen Punkte haben die Form kleiner und hauchdünner Striche über den Buchstaben. Weshalb die Beschädigungen innerhalb der Buchstaben entstanden sind, konnte noch nicht abschließend geklärt werden. Sie könnten entweder durch Tintenfraß oder nach Einschätzung von Dietmar Wohl, Gemälderestaurator und Dozent an der Uni Münster, durch Fischchenfraß verursacht sein.
Aufgrund seiner stilistischen Merkmale kann das Blatt dem Zeitraum zwischen der zweiten Hälfte des achten und dem zehnten Jahrhundert zugeordnet werden. Während sich der zuvor im siebten und achten Jahrhundert unter den Umayyaden gebräuchliche Ḥiǧāzi-Stil in der Regel durch einen kursiven Duktus mit schlanken, nach rechts geneigten Buchstaben meist auf vertikalem Format auszeichnet, entwickelte sich anschließend eine Vielzahl unterschiedlicher Schriftarten, die durch oft in die Breite gezogene, eher rechtwinklig auf der Zeile liegende Buchstaben auf horizontalem Format ein gemeinsames typologisches Merkmal aufweisen und heute unter dem Begriff Kūfī zusammengefasst werden. Diese Bezeichnung konnte sich gegenüber anderen Vorschlägen wie etwa früh-abbasidisch durchsetzen, da sie sich nicht auf eine spezifische Schriftart, sondern generell auf die eckigen Stile aus frühislamischer Zeit bezieht und Schriftarten mit einschließt, die bereits unter den Umayyaden verwendet und von den Abbasiden fortgeführt wurden.
Anhand unseres Objekts lassen sich die Besonderheiten des kufischen Schriftduktus, verglichen mit heute geläufigen Stilen, gut erkennen. Insgesamt eher kompakt und in die Breite strebend kommt die Schrift ohne langgeschwungene Kurven aus. Das finale Nūn beispielsweise ähnelt in seiner Form vielmehr dem heutigen Rā, während jenes ebenso wie das Wāw kaum Raum unterhalb der Grundlinie einnimmt. Als einer der wenigen nach oben strebenden Buchstaben ist das geschwungene Alif am Wortanfang stets weit entfernt von dem restlichen Wort platziert, wodurch nicht immer ersichtlich ist, an welcher Stelle ein neues Wort beginnt. Dies wird zusätzlich dadurch erschwert, dass sich einzelne Wörter teilweise über mehrere Zeilen erstrecken. Darüber hinaus weisen einige Buchstaben wie das Kāf, das Dāl und das Ḏāl eine horizontale Verlängerung (mašq) auf, ebenfalls ein häufiges Merkmal kufischer Schriftarten.
Frühislamische Manuskripte wurden häufig in abgedichteten Lagerräumen in Moscheen aufbewahrt und auf diese Weise konserviert. Im 19. und 20. Jahrhundert kam es vielerorts zu spektakulären Funden, etwa 1972 in der Großen Moschee von Ṣanʽā’, Jemen, wo durch Zufall ein Bestand von über 1000 wertvollen Koranmanuskripten entdeckt wurde, nachdem eine Wand des Gebäudes infolge schwerer Regenfälle zerstört worden war. Da Folios aus alten Handschriften seit dem 19. Jahrhundert ein begehrtes Objekt auf dem Kunstmarkt sind, etablierte sich das Aufbrechen von Kodices zu einer weltweit gängigen Praxis.
Angesichts seines hohen Alters erscheinen die Spuren an unseren Fragmenten zunächst nicht weiter verwunderlich. Ungewöhnlich ist allerdings eine Stelle auf der ersten Seite, an welcher ein Loch im Pergament provisorisch aus mehreren Einzelstücken wieder zusammengeflickt wurde. Diese Stelle führt zu der Überlegung, ob ein Koran, welcher einer religiösen Institution gehörte, nicht auf professionellere Weise restauriert worden wäre, sich das Manuskript ursprünglich also im Privatbesitz befunden haben könnte. Charakteristika wie das geringe Format und die Abwesenheit von Vokalzeichen sprechen dafür.
Wie bereits eingangs erwähnt, ist auf dem Gebiet der Datierung frühislamischer Koranmanuskripte, in dem verschiedene wissenschaftliche Ansätze miteinander konkurrieren, noch viel Raum für neue Erkenntnisse. In seinem Grundlagenwerk von 1992 nahm der französische Wissenschaftler Franҫois Déroche anhand eines paläographischen Vergleichs von über 70 Manuskripten und Fragmenten der Nasser D. Khalili Collection eine Klassifizierung in verschiedene Schriftfamilien vor. Wendet man seine Methode auf unser Objekt an, treten die meisten Übereinstimmungen mit der von ihm identifizierten Subgruppe C.III. auf. Manuskripte, die ihm als Beispiele für diese Gruppe dienen, wurden allesamt entweder in Kairo oder Damaskus gefunden. Anhand eines Dokuments, welches einen dieser Korane begleitete, gelang es Déroche, die Manuskripte der Gruppe C.III. an das Ende des neunten oder den Anfang des zehnten Jahrhunderts zu datieren – einen Zeitraum, der auch für unser Objekt vorstellbar erscheint.
- Charlotte Holtmann
Literatur