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Münster (upm)
Cover des Buches &quot;Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit&quot;.<address>© Verlag Herder</address>
Cover des Buches "Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit".
© Verlag Herder

Ein bahnbrechendes Werk in 17 Bänden

Wissenschaftler erarbeiten ersten kritischen Koran-Kommentar aus muslimischer Perspektive

Was derzeit am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) entsteht, hat es in dieser Form noch nie gegeben: ein kritischer Koran-Kommentar aus muslimischer Perspektive. Herausgegeben von Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, Lehrstuhlinhaber für Islamische Religionspädagogik und Leiter des ZIT, erwächst ein bahnbrechendes Werk in 17 Bänden, das einen neuen Zugang zum Koran eröffnet: Obwohl er als geoffenbartes Gotteswort gilt, wird der Koran zugleich als historisch gewordener Text verstanden. Anders ausgedrückt: Die historisch-kritische Methode der Bibel-exegese wird erstmals auf den Koran angewandt. „Wir schlagen mit diesem Projekt eine Brücke zwischen der traditionellen muslimischen und der modernen wissenschaftlichen Vorstellung“, erläutert Mouhanad Khorchide, „und wir zeigen, dass das keine Gegensätze sind und es kein Entweder-Oder geben muss.“

Dabei ist er sich bewusst, dass schon der Titel des gerade erschienenen ersten Bandes, in dem es um die Methodik des gesamten Projekts geht, für viele Muslime eine Provokation ist: „Gottes Offenbarung in Menschenwort“. „Gott kann sich nicht anders offenbaren als in von Menschen nachvollziehbaren Kategorien, anders können wir von Offenbarung nicht sprechen“, verdeutlicht der Theologe den Titel. „Der Koran ist nicht einfach vom Himmel herabgekommen, ohne dass der Mensch mit seiner Geschichte beteiligt ist. Offenbarung gibt es nur in der Geschichte und durch die Sprache, die linguistische wie kulturelle, des Menschen.“ Der Koran könne deshalb auch nicht mehr wortwörtlich verstanden werden, sondern müsse stets vor dem Hintergrund der Frage gelesen werden, was er für den Menschen damals bedeutete und was er heute für ihn bedeute beziehungsweise was Gott heute sagen würde. Mouhanad Khorchide: „In der 16. Sure des Koran werden die damaligen Transportmittel Maultiere, Pferde und Esel genannt. Heutzutage wären das natürlich Autos, Eisenbahnen und Flugzeuge.“ Seinen Studenten mache er mit diesem und ähnlichen einfachen Beispielen klar, dass auch das Frauenbild, die Strafen oder die Bilder vom Himmel im Koran im damaligen historischen Kontext zu sehen seien und keineswegs wortwörtlich für heute gälten.

Ansätze zu einer historisch-kritischen Methodik gab es immer wieder einmal in der muslimischen Welt, so im 9. Jahrhundert und zuletzt in den 90er-Jahren, wurden aber nicht konsequent weiterverfolgt. Das ZIT-Team rund um Mouhanad Khorchide will diesen hermeneutischen Ansatz anwenden und einen neuen philologischen Zugang zum Koran eröffnen, ohne dabei den Text zu zerlegen oder aufzulösen. „Wir wollen die Muslime mitnehmen und setzen die historisch-kritische Exegese ein, um die Barmherzigkeit Gottes im Text aufzudecken“, erklärt der Religionspädagoge. „Das ist unser roter Faden und hermeneutischer Schlüssel, wobei die Grundfrage bleibt, wie man diese Barmherzigkeit heute in unserem Leben fortdenken kann.“ Klar ist: Nicht alle methodischen Schritte, die auf die Bibel angewandt worden sind, lassen sich auch für den Koran fruchtbar machen. Auch gehen Mouhanad Khorchide und seine sieben Mitarbeiter nicht Sure für Sure vor, sondern nach größeren Themen wie etwa Scharia, Frauenbilder oder Gewalt im Koran. Dabei arbeiten die Forscher an mehreren Bänden des auf insgesamt 17 Bände angelegten Werks gleichzeitig. Die beiden letzten Bände werden eine Kurzfassung für „normale“ Gläubige und interessierte Laien bieten; bis 2025 soll das Großprojekt abgeschlossen sein. Ob der Koran-Kommentar eines Tages eins zu eins in Arabisch erscheinen kann? Das hält Mouhanad Khorchide im Hinblick auf die Zukunft für möglich, aber nicht jetzt. „Dann würden sich uns viele Türen verschließen. Dafür ist die Zeit noch nicht reif.“

Autor: Gerd Felder

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben, Nr. 7, 14. November 2018.

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