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Münster (upm)
Flugblatt des Ausschusses der Frauenverbände Deutschlands in Berlin zur Wahl im Jahr 1919<address>© Bild: AddF Kassel, Sign.: SK-14 ; 1, Grafikerin: Martha Jäger</address>
Flugblatt des Ausschusses der Frauenverbände Deutschlands in Berlin zur Wahl im Jahr 1919
© Bild: AddF Kassel, Sign.: SK-14 ; 1, Grafikerin: Martha Jäger

Appell an die moralische Verantwortung

Vor 100 Jahren erhielten Frauen in Deutschland das politische Wahlrecht – ein Gastbeitrag von Dr. Julia Paulus

Nicht erst seit dem „Histotainment“-Format „Babylon Berlin“ oder Ausstellungen wie „Glanz und Elend der Weimarer Republik“ (2017/18, Schirn Kunsthalle Frankfurt) bekommen wir eine Ahnung davon, dass Bilder von Frauen der ‚ersten Stunde‘ oftmals eher Klischees reproduzieren denn Realität vermitteln. Vor allem aber transportieren sie Wünsche nach Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit – ob in Kunst, Kultur oder Mode, ob in der Erwerbstätigkeit oder nicht zuletzt auch in der Politik. Im zeitgenössischen Kontext hingegen waren diese Vorstellungen von der ‚modernen Frau‘ nicht selten eher negativ konnotiert. Wurden sie in der bildenden Kunst noch zur Avantgarde gezählt, so lösten diese als Grenzüberschreitung empfundenen Aus- und Aufbrüche aus Gewohntem im konkreten Leben zwischen den Geschlechtern eher Ängste und Gegenwehr aus. Vor allem die Aussicht, dass Frauen auch gleichberechtigt politisch partizipieren konnten, hatte bereits während des Kaiserreichs zahlreiche Gegner in den Parteien mobilisiert. Sicherlich fürchteten sie hierbei Frauen als mögliche Konkurrentinnen um Wählerinnenstimmen; vor allem aber sahen insbesondere viele Männer den Eintritt von Frauen in die öffentlichen Arenen der Politik als Zeichen eines radikalen Bruchs mit der Vergangenheit, der die bisherige Geschlechterordnung grundsätzlich zu revolutionieren drohte.

Entsprechend überrascht, hastig und überstürzt erfolgten von den Parteien, die sich alle – mit Ausnahme der Sozialdemokratie – bis dahin gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatten, die Vorbereitungen zu den ersten Wahlen der Republik: den Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Diese waren bereits auf den 19. Januar 1919 terminiert worden und sollten damit nur wenige Wochen nach der Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts durch den Rat der Volksbeauftragten für alle über zwanzigjährigen Deutschen stattfinden, zu denen nun erstmals auch Frauen gehörten.

Um die mehrheitlich 17,7 Millionen wahlberechtigten Frauen für sich zu gewinnen, warben die Parteien mit Wahlplakaten, die sich gezielt an Frauen richteten, indem sie zumeist an ihre erzieherische und moralische Verantwortung appellierten. Parallel dazu gab es Aufrufe in Tageszeitungen, in denen nicht selten unter Überschriften wie „Frauen! Lernt wählen“ Aufklärungskampagnen gestartet wurden. In loser Folge erschienen Artikel, mit denen die Wählerinnen auf ihre neue staatsbürgerliche Aufgabe vorbereitet werden sollten, indem sie auf die Bedeutung ihrer Wahlentscheidung hingewiesen wurden und damit auf die ‚besondere Verantwortung‘, die auf ihnen lastete. Ganz praktisch erhielten sie hierbei auch Unterricht im ‚richtigen‘ Ausfüllen des Stimmzettels.

Während männliche Parteipolitiker Frauen in erster Linie „nur“ als Wählerinnen wahrnahmen, stellten sich die weiblichen Parteimitglieder wie auch Vertreterinnen der Frauenverbände die Frage, woher nun in aller Kürze jene Kandidatinnen kommen sollten, die für ein politisches Engagement auf kommunaler oder überregionaler Ebene zu begeistern waren und als Rollenvorbilder die weibliche Wählerschaft zum Urnengang motivieren konnten. Schließlich konnte die Mehrzahl der Parteien auf keine lange Tradition in Sachen politischer Beteiligung von Frauen verweisen. So überrascht es auch kaum, dass Gertrud Bäumer als prominente Frauenrechtlerin und Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine von der Deutschen Demokratischen Partei gleich in zwei Wahlkreisen zur Kandidatur aufgestellt wurde und „es schließlich zu drei Wahlreden täglich an verschiedenen Orten [brachte], noch dazu in kommunistisch durchsetzten Bezirken“, wie die ebenfalls in diesem Wahlkampf engagierte Marianne Weber in ihren „Lebenserinnerungen“ später schrieb. Insgesamt standen auf den Wahlvorschlägen für die 36 Wahlkreise im Deutschen Reich lediglich 308 Frauen neben 1310 Männern zur Abstimmung. Dementsprechend erhielten aufgrund der ungünstigen Listenplatzierung von den insgesamt 423 Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung nur 9,6 Prozent und damit 37 weibliche Kandidaten aus sechs Parteien ein Abgeordnetenmandat. In den verfassunggebenden Landesversammlungen waren weibliche Abgeordnete sogar mit nur insgesamt sechs Prozent vertreten – ernüchternde Werte, die dennoch lange nicht wieder erreicht werden sollten.

Im Vorfeld der Listenaufstellung hatte dieses offensichtliche Missverhältnis in fast allen Parteien zu Irritationen und Protesten unter den Bewerberinnen um ein politisches Mandat geführt. So beklagte zum Beispiel die Bocholter Zentrumspolitikerin Helene Drießen, dass unter den „Wahlmännern“ des Wahlkreises Borken-Recklinghausen nur eine Frau, wie auch auf der Wahlliste Münster-Minden bei sechs bis sieben sicheren Plätzen lediglich eine Frau erst an neunter Stelle aufgeführt sei.

Angesichts des weiterhin sinkenden Anteils von weiblichen Abgeordneten in den Reichs-, Landes- und Kommunalparlamenten gab es in den folgenden Jahren immer wieder Appelle engagierter Frauen, entweder eine eigene Frauenpartei zu gründen oder sich zu Wahlbündnissen zusammenzuschließen. Eine solche international hoch beachtete ‚Frauenliste‘ hatte schließlich 1924 bei den Kommunalwahlen in Warendorf Erfolg und konnte zumindest kurzfristig die dortige – bis dato ausschließlich männlich geprägte – Politik mitgestalten.
 

Dr. Julia Paulus hat Geschichte und Katholische Theologie in Münster und Wien studiert und ist seit 1996 wissenschaftliche Referentin am Institut für westfälische Regionalgeschichte (Referat für Frauen- und Geschlechtergeschichte) des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL). An der WWU ist sie zudem als Lehrbeauftragte für Neuere und Neueste Geschichte tätig.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben, Nr. 7, November/Dezember 2018.

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