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Münster (upm)
Kaiserbesuch in Münster: Diese historische Postkarte zeigt Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1907 mit Soldateneskorte bei einem Paraderitt durch die Stadt.<address>© LWL-Medienzentrum für Westfalen</address>
Kaiserbesuch in Münster: Diese historische Postkarte zeigt Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1907 mit Soldateneskorte bei einem Paraderitt durch die Stadt.
© LWL-Medienzentrum für Westfalen

Kaiser-Diagnose auf Basis von Anekdoten

Namenspatron der WWU dankte vor 100 Jahren ab – ein Gastbeitrag zur damaligen Debatte über den Geisteszustand von Wilhelm II.

Das deutsche Kaiserreich endete am 9. November 1918. Der Erste Weltkrieg hatte zu diesem Zeitpunkt über vier Jahre gewütet, den europäischen Kontinent verwüstet und viele Millionen Tote und Verletzte gefordert. Am Ende ging es, zumindest im Westen Europas, schnell. Die Fronten der Mittelmächte bröckelten und brachen zusammen, in Deutschland breitete sich die Revolution von Stadt zu Stadt aus. Als Wilhelm II. am frühen Morgen des 10. November ins niederländische Exil floh, war seine Abdankung bereits verkündet. Er würde nicht nach Deutschland zurückkehren, aber seine früheren Untertanen waren noch nicht mit ihm fertig. In den Tageszeitungen, Buchauslagen und psychiatrischen Fachzeitschriften begann kurz nach der Flucht des Kaisers eine Debatte über seinen Geisteszustand. Schon im Titel wurde oft Eindeutiges verkündet: „Die Krankheit Wilhelms II.“ – „Wilhelm II. periodisch geisteskrank!“ – „Wilhelm II. als Krüppel und Psychopath“.

Anlass genug also, sich aus medizinhistorischer Perspektive genauer anzuschauen, was damals über den Geisteszustand des Namenspatrons der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster geschrieben wurde. Dies ist auch deshalb interessant, weil die Schriften selbst zwar in Vergessenheit geraten sind, das dort gezeichnete Bild Wilhelms als größenwahnsinnige Operettenfigur aber bis heute nachwirkt. Sie haben ihren Weg in die öffentliche Wahrnehmung ebenso wie in die maßgeblichen Biografien des letzten deutschen Kaisers gefunden.

Zur Beantwortung der Frage nach dem tatsächlichen Geisteszustand Wilhelms haben die historischen Kaiser-Diagnosen dennoch kaum etwas beizutragen. Ganz im Gegenteil zeigen sie deutlich, dass bereits die Frage selbst falsch gestellt ist. Dies liegt zunächst daran, dass ein medizinisches Urteil auf dieser Grundlage schlicht nicht möglich ist. Es handelt sich restlos um methodisch unlautere Ferndiagnosen, die sich auf schrullige Anekdoten, Hörensagen, Spekulationen und sogar auf Karikaturen stützen. Historische Krankheitsbezeichnungen wie „Hysterie“ und „Nervosität“ lassen sich nicht ohne weiteres in aktuelle Diagnosen übersetzen. Das zweite Problem besteht in einem gravierenden Kategorienfehler: Medizinische Diagnosen sind keine moralischen Urteile. Doch genau darum handelt es sich, wenn die psychiatrische Diagnose die politische Analyse ersetzt und ihr Ziel aus der Sphäre des Politischen verbannen will. Die Vorstellung, dass eine psychiatrische Diagnose auch ein moralisches oder ein politisches Urteil sei, verkennt nicht nur die Realität psychischer Krankheit; sie hat in den letzten Jahrhunderten maßgeblich zur Stigmatisierung, Ausgrenzung und Ermordung psychisch kranker Menschen beigetragen.

Die historisch interessanteren Fragen lauten also: Warum wurden diese Diagnosen eigentlich verfasst? Und was erzählen sie über ihre Zeit? Denn eigentlich ging es den an der Debatte beteiligten Nervenärzten weniger um die Gesundheit eines ehemaligen Staatsoberhaupts, als darum, durch ihr medizinisches Urteil politische Fragen zu beantworten. Aus medizinisch fragwürdigen Diagnosen werden so Dokumente, die Auskunft geben über Erleichterung und Erschütterung, über Hoffnungen und Ängste, und über die Herausforderung einer Zukunft, die durch den politischen Bruch von 1918 weit geöffnet worden war.

Spekulationen über den Geisteszustand Wilhelms hatte es bereits während seiner Regentschaft gegeben. Schon 1894 hatte eine kleine Schrift über den „Cäsarenwahn“ Caligulas einen Skandal ausgelöst, als Zeitgenossen hinter der römischen Maske den eigenen Kaiser erkannten. Auch im Ersten Weltkrieg gehörten psychiatrische Angriffe auf das deutsche Staatsoberhaupt fest zum Repertoire der alliierten Propaganda. Nach 1918 kamen jedoch neue Aspekte hinzu: Die Diagnose des Kaisers verband sich mit Fragen nach der deutschen Kriegsschuld, der Verantwortung für Revolution und militärische Niederlage und der politischen Richtung Deutschlands nach dem Krieg. An der angeblichen Geisteskrankheit Wilhelms entspannen sich Debatten über individuelle und kollektive Kriegsschuld, die europäische Nachkriegsordnung, die politische Deutung der Flucht des Kaisers, über den Zusammenhang zwischen dynastischer Monarchie und der Vererbung von Krankheiten und der Vorstellung eines geistig gesunden „Führers“ als Gegenbild des nervösen Kaisers.

Die Geisteskrankheit des ehemaligen Kaisers wurde so zu einer vieldeutigen und widersprüchlichen Metapher. Aber es waren gerade diese Ambivalenzen, die die Kaiserdiagnose für eine kurze Zeit zu einem erfolgreichen Genre machten. Die Begriffe der Psychiatrie schufen einen Deutungsrahmen, der nicht nur Unterschiedliches, sondern teils auch Widersprüchliches vereinen konnte. Sie erlaubten es, einen symbolischen Schlussstrich unter Wilhelm und den Wilhelminismus zu ziehen, den früheren Kaiser für den Krieg verantwortlich zu machen und im gleichen Atemzug für unschuldig zu erklären. So ließ sich mit scheinbar wissenschaftlicher Autorität Ordnung in eine ungeordnete Zeit bringen.

Dr. David Freis ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der WWU. Für den Beitrag „Diagnosing the Kaiser: Psychiatry, Wilhelm II and the Question of German War Guilt“ erhielt er den William-Bynum-Preis der Zeitschrift Medical History.

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 7, November/Dezember 2018.

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