|
Münster (upm)
Ob der NSU-Prozess, der AfD-Wahlkampf in Bayern oder Anfeindungen gegen den Fußballspieler Mesut Özil – Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus spielen in aktuellen Debatten eine große Rolle. Zeithistoriker Prof. Dr. Thomas Großbölting sieht trotz aller Turbulenzen im innen- wie im außenpolitischen Bereich keine Gefahr eines Systembruchs.<address>© fotollia.com/Patrick Daxenbichler</address>
Ob der NSU-Prozess, der AfD-Wahlkampf in Bayern oder Anfeindungen gegen den Fußballspieler Mesut Özil – Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus spielen in aktuellen Debatten eine große Rolle. Zeithistoriker Prof. Dr. Thomas Großbölting sieht trotz aller Turbulenzen im innen- wie im außenpolitischen Bereich keine Gefahr eines Systembruchs.
© fotollia.com/Patrick Daxenbichler

"Trotz aller Turbulenzen sehe ich keine Gefahr eines Systembruchs"

Zeithistoriker Prof. Dr. Thomas Großbölting vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" über aktuellen Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus

Wer in diesen Tagen die Nachrichten verfolgt, der wird regelmäßig mit Berichten über Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus konfrontiert. 73 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte weiterhin von Bedeutung. Kathrin Nolte sprach mit Prof. Dr. Thomas Großbölting, Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der WWU Münster und Mitglied des Exzellenzclusters "Religion und Politik", über die Diskussionen in Politik und Gesellschaft, die Erinnerungskultur seit 1945 und die Bedeutung von Zeitzeugen des NS-Regimes für die Geschichtswissenschaft.

Ob der NSU-Prozess, der AfD-Wahlkampf in Bayern oder Anfeindungen gegen den Fußballspieler Mesut Özil – Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus spielen in aktuellen Debatten eine große Rolle. Wie schätzen Sie diese Entwicklungen ein?

Die Einschätzungen des aktuellen Geschehens changieren je nachdem, welche Phase der Geschichte man heranzieht. Meines Erachtens lassen sich zwei konträre Tendenzen ausmachen: Auch Berlin ist nicht Weimar, so in Abwandlung einer in den 1950er-Jahren prominenten Zeitbeobachtung, die die Stabilität der Bundesrepublik betonte. Der Vergleich mit der Zwischenkriegszeit zeigt deutlich, dass Demokratie und politische Kultur in Deutschland auf wesentlich stärkeren Fundamenten aufruhen, sodass ich trotz aller Turbulenzen im innen- wie im außenpolitischen Bereich keine Gefahr eines Systembruchs sehe. Es gibt nach wie vor eine Mehrheit in der Bevölkerung, die die Grundlagen der Demokratie schätzt und hochhält. Dennoch – und das ist die anderslaufende Einschätzung, die vor allem die "Bonner Republik" als Vergleichsfolie heranzieht – werden die Stimmen lauter, die die Funktionsunfähigkeit des politischen Systems entweder beklagen oder gar – so eine ganz kleine, aber dennoch laustarke Minderheit – dieses als Anlass sehen, zum "Aussteigen" aufzufordern. Die Weimarer Republik ist unter anderem daran zugrunde gegangen, dass sie aus der Mitte so wenig verteidigt wurde. Es wäre töricht, wenn sich die Parteien und Repräsentanten des öffentlichen Lebens vom Rand dazu verleite ließen, ihrerseits voreilig an den Stellschrauben der Politik zu drehen. Das gilt meines Erachtens ebenso für die deutschen wie auch die europäischen Zusammenhänge.

Der Ruf nach einem Ende des Erinnerns in der Gesellschaft wird lauter. Wie hat sich die Erinnerungskultur in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Die öffentliche Thematisierung des Nationalsozialismus und die emphatische Erinnerung an die Opfer von Holocaust und Verfolgung sind mittlerweile zu festen Bestandteilen der politischen Kultur in der Bundesrepublik geworden. Das war in den Anfängen der Bundesrepublik noch keinesfalls so. Und diese starke Orientierung der Erinnerung an den Nationalsozialismus und insbesondere die Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa wird sich trotz mancher polemischen Attacken gegen diese Haltung auch nicht ändern. Diejenigen, die aber heute Gedenkstätten- und politisch-historische Arbeit leisten und auch NS-Geschichte unterrichten wie ich, werden aufpassen müssen, dass sie nicht in stark generationell gebundene Stereotype der Erklärung und Erzählung verfallen. Insbesondere unter Studierenden, aber auch unter Schülerinnen und Schülern erlebe ich oft ein sehr waches und reflektiertes Bewusstsein dafür, mit dieser Geschichte produktiv und auch in die Zukunft gerichtet umzugehen, ohne sofort in bestimmte Denkschablonen, Klischees und Pathosformeln zu verfallen. Das lässt auch die ältere Generation inklusive mir schlauer werden!

Welche Bedeutung hat die Frage nach der Schuld?

Schuld ist eine schwierige Kategorie, die zunächst juristisch, dann auch metaphysisch, vielleicht theologisch anzugehen ist. Dennoch spielt Schuld für die populäre, aber auch die politische Beschäftigung mit der Vergangenheit eine große Rolle. Im Idealfall werden Opfer entschädigt und Täter bestraft, um auf diese Weise Gerechtigkeit wiederherzustellen. Der hehre Anspruch wird sich immer daran reiben müssen, dass beides nur sehr gebrochen möglich ist. Für das Verstehen der Vergangenheit baut die Frage der Schuld dann Barrieren auf, wenn sie hoch moralisch aufgeladen wird und auf diese Weise nur noch eine klischeehafte Aneignung des Gestern möglich macht.

Prof. Dr. Thomas Großbölting<address>© WWU/Weischer</address>
Prof. Dr. Thomas Großbölting
© WWU/Weischer
Immer mehr Zeitzeugen und Überlebende des NS-Regimes verstummen. Was bedeutet dieser Einschnitt für die Geschichtswissenschaft?

Für die Geschichtswissenschaft ist diese Frage vielleicht weniger einschneidend als für das öffentliche Erinnern. Manche Experten wie beispielsweise der Sozialpsychologe Harald Welzer befürchten, dass mit dem Sterben der Zeitzeugen die Erinnerung "erkaltet". Ich bin weniger skeptisch: So beeindruckend der Kontakt mit Menschen ist, die selbst von ihrem Erleben beispielsweise des nationalsozialistischen Terrors berichten können, auch ist, so bleiben doch darüber hinaus viele Möglichkeiten, sich den damaligen Geschehnissen zu nähern und sich damit auseinanderzusetzen. In der Geschichtswissenschaft selbst hat es viele Bemühungen gegeben, Erinnerung zu protokollieren und auf diese Weise zu konservieren, um auch in Zukunft damit arbeiten zu können.

Links zu dieser Meldung