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Münster (upm)
Literaturrecherche in der Universitäts- und Landesbibliothek der WWU: Die Digitalisierung und das internet bringen für Universitäten viele Veränderungen mit sich.<address>© WWU/Julia Holtkötter</address>
Literaturrecherche in der Universitäts- und Landesbibliothek der WWU: Die Digitalisierung und das internet bringen für Universitäten viele Veränderungen mit sich.
© WWU/Julia Holtkötter

Wer will schon alles über den Haufen werfen?

Prof. Dr. Michael Jäckel von der Universität Trier über die Herausforderungen der Digitalisierung für deutsche Hochschulen

"Die Entfernung fördert meist die Bewunderung." Dieser Satz des französischen Philosophen Denis Diderot (1713-1784) beschreibt eine vertraute Erfahrung, die die Kehrseite des Sprichworts "Der Prophet im eigenen Land ist nichts wert." wiedergibt. Seit Jahren etwa wird die Universität mit der Erwartung konfrontiert, dass ihr die Besucher ausgehen. Gerne wird in diesem Zusammenhang an eine in den USA formulierte Prognose erinnert, die in den 1990er Jahren der herkömmlichen Universität bescheinigte, in 30 Jahren ein Relikt der Vergangenheit zu sein. Mit dem Begriff "Anwesenheitsinstitution" wird dagegen hierzulande auf eine Tradition hingewiesen, die den Gedanken des gemeinsamen Studierens hervorhebt. Zugleich wird die Modernisierung dieses Lehr- und Lernorts betont. Aber das besondere Erstaunen ziehen gegenwärtig nicht ortsbezogene Campus-Initiativen auf sich, sondern nach wie vor Erwartungen an eine radikale Veränderung des internationalen Bildungsmarkts. Denn, ebenfalls in der Ferne, erneut in den Vereinigten Staaten, nehmen derweil Nano-, Micro- und Master Degrees, die von Plattformen wie edX, Udacity oder Coursera angeboten werden, zu. Neue Geschäftsmodelle werden an vielen Stellen erprobt.

Viele neue Ideen mit stets besonderen Namen oder Akronymen prägen somit die digitale Agenda. Dazu gehört seit Jahren und nun verstärkt das Thema „Open Educational Resources“ (OER). Hier wird nicht nur ein kreativer Umgang mit Lehren und Lernen favorisiert, sondern auch das entsprechende Instrumentarium mitgeliefert: Makerspace, EduLab, TinkerBib – drei zufällig ausgewählte Begriffe und Konzepte aus einem gerade erschienenen Schwerpunktheft. Jede dieser Ideen könnte für ein Element in einem Schaltplan der Zukunft stehen, das der verstorbene Frank Schirrmacher mit Blick auf  eine innovative Region einmal so formulierte: "Jeder neue Output des Silicon Valley […] ist ein Ereignis der sozialen Physik." Etwas verändert die Spielregeln und die Strukturen. Wir registrieren also Aktivitäten auf vielen Ebenen, wissen aber nicht, wie sie sich zueinander verhalten werden.

Auch das aufklärerische Ideal, für das Diderot steht, zielte auf eine Veränderung der Spielregeln, auf einen anderen Zugang und Umgang mit Bildung. Verbunden damit war ein Autonomieanspruch: "die Welt sich selbst einzuverwandeln."

Sich selbst einzuverwandeln? Autonomer kann ein Bildungsvorgang wohl kaum beschrieben werden. Aber wie sahen manche Antworten aus? Spektakulär etwa die Automatic Professor Machine, die gegen Kreditkartenzahlung eine Vorlesung lieferte. Der Bestellvorgang wurde mit "It’s all information to me." kommentiert, durchaus in satirischer Absicht. Das Beispiel steht paradigmatisch für die Suggestion des einfachen, aber eben nicht kostenlosen Zugangs zu Bildungsinhalten. Eine gute Vermittlung wird als gegeben angenommen. Didaktik ist sozusagen immer und muss nicht eingefordert werden.

Die Skepsis gegenüber elektronischen Vorlesungs-Formaten ist also bekannt. Zur Vorstellung, man könne damit, im aktuellen Sinne also mit Massive Open Online Courses, die Welt der Bildung öffnen, sagte ein Verantwortlicher der University of Southern California beispielsweise im Jahr 2015: "Ja, die Moocs-Bewegung wollte breitere Bevölkerungsschichten erreichen. Aber universitäre Bildung heißt ja nicht nur Informationen zu bekommen. Es geht um den Austausch mit Professoren und anderen Studenten, darum sich zu respektieren und zu interagieren. Der Bildungsprozess ist also ein viel umfassenderer."

Da ist sie wieder: die traute Umgebung, die aber häufig auch zu romantisch beschrieben wird. Trotzdem konnte die Bewunderung dessen, was da in der Ferne passiert, Rektorenkonferenzen und viele andere Kongresse (inhaltlich) vereinnahmen. Beispielhaft sei die Broschüre "Potenziale und Probleme von MOOCs" aus dem Jahr 2014 und die MOOC@TU9-Initiative der großen Technischen Universitäten Deutschlands genannt.

Alles kreist somit um die Frage guter Lehre, um das Ausmaß der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, um die Qualität von Lehrformaten, um kognitive Effekte unterschiedlicher Lernformen, um Anwesenheit und Abwesenheit, mithin um Flexibilität, um Fokussierung und Ablenkung, um Unabhängigkeit und Kontrolle, um Infrastrukturen.

Dass sich so gegensätzliche Favoriten wie "elektronische Vorlesung" und "IT-basierte Laboratorien für das gemeinsame Lernen" gegenüberstehen, ist kein Zufall. Das eine hat viel von Geschäftsmodell, das andere von "Adieu Eindimensionalität". In Lehr-Lern-Laboren sieht man eine wichtige Ergänzung bisheriger Curricula. Es sollen Gelegenheitsstrukturen auf dem Campus entstehen, die eine flexible Didaktik (analog/digital) erlauben. So entstehe auch Anerkennung am richtigen Ort. Gerade dort könne man die Studierenden einbinden, denen die digitale Lehre doch angeblich gar nicht so wichtig sei.

Aber weil Digitalisierung irgendwie mit allem zu tun hat, muss und kann man nicht alles mitmachen. Es macht auch keinen Sinn, eine "digitale Zweitwelt Universität/Hochschule" anzustreben (weil dazu Zeit, Geld und Personal fehlt), ebenso wenig ein eher eindimensionales gegen das "Beteiligungs"-Modell auszuspielen. Beide können gelingen, aber auch enttäuschen. Das Erststudium ist immer noch das Kerngeschäft der Universität. Also sollte es vor allem um eine Belebung dieses Angebots gehen – was auch über eine stärkere Einbindung der Studierenden erfolgen kann. Viele "Lab"-Konzepte machen sich derzeit auf den Weg. Das Akronym steht für Experiment und Kontrolle zugleich. Dennoch werden die digitalen Kompetenzen ungleich verteilt sein und werden es wohl auch bleiben. Das steuert das Engagement und sorgt für Unterschiede im akademischen Alltag. Die Universitäten und Hochschulen registrieren daher sowohl aufmerksam das "digitale Heldentum", das nicht mehr nur in der Ferne bewundert werden kann, sondern auch Versuche und Aufforderungen, Insellösungen mehr in die Fläche zu tragen. Der (eigene) digitale Wandel soll beherrschbar bleiben.

Apropos Beherrschbarkeit: Nach Diderot ist in der Konsumforschung ein Effekt benannt, der eine einmal in sich ruhende Gesamtkomposition durch eine Einzelentscheidung über den Haufen wirft.

Wer will schon alles über den Haufen werfen? Es braucht auch keinen "Westfälischen Frieden" zwischen einer analogen und einer digitalen Fraktion. "Freudenfeste" (WWU-Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger) muss auch niemand erwarten. Es geht um Bewunderung in und aus der Nähe.

 

Prof. Dr. Michael Jäckel<address>© Universität Trier</address>
Prof. Dr. Michael Jäckel
© Universität Trier
Michael Jäckel ist Professor für Soziologie an der Universität Trier. Seit 2011 ist er deren Präsident. Er ist Mitglied des Rats für Informationsinfrastrukturen, vertritt die Interessen der Hochschulrektorenkonferenz im Rahmen des IT/Digital-Gipfels der Bundesregierung und arbeitet an zentraler Stelle im Hochschulforum Digitalisierung mit, das als interdisziplinär zusammengesetztes Expertenforum die Entwicklungen in der digitalen Welt beobachtet und analysiert.

 

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 1, Januar / Februar 2018.

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