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Münster (upm)
Relikte aus den 1920er- bis 1960er-Jahren: Die Glasplatten werden für zukünftige Forschungen fein säuberlich sortiert aufbewahrt.<address>© WWU/Peter Leßmann</address>
Relikte aus den 1920er- bis 1960er-Jahren: Die Glasplatten werden für zukünftige Forschungen fein säuberlich sortiert aufbewahrt.
© WWU/Peter Leßmann

Hausgiebel als Indiz für den „Volks-Geist“

Serie über die Sammlungen an der WWU – Teil 2: Seminar für Volkskunde und Europäische Ethnologie beherbergt rund 6.000 Aufnahmen

Von außen wirkt er unscheinbar. So schlicht, dass niemand, der vor dem Schrank steht, ahnt, dass sich im Inneren ein echter Schatz verbirgt – rund 6.000 historische Dias. Nur mit einem Schlüssel lassen sich die Türen öffnen. Was aussieht wie ein handelsüblicher Kleiderschrank einer relativ bekannten schwedischen Einrichtungshaus-Kette, ist mit herausziehbaren, weißen Schubfächern ausgestattet. Darin liegen zahlreiche Glasplatten Rücken an Rücken, jede ist fein säuberlich nummeriert. Die meisten Studierenden, die im Erdgeschoss der Bibliothek in der Scharnhorststraße nach hilfreicher Literatur suchen, werden keine Notiz von diesem Raum nehmen. Wenn Sie nur wüssten! Denn die in den Jahren von 1920 bis 1960 entstandenen Aufnahmen sind für die Volkskundler der Universität Münster von großer Bedeutung.  „Die Diasammlung ist für die Wissenschaftsgeschichte der volkskundlichen Hausforschung eine der wichtigsten Quellen“, betont Prof. Elisabeth Timm, geschäftsführende Direktorin des Seminars für Volkskunde/Europäische Ethnologie und Sammlungsleiterin.

Die Sammlung ist vor allem mit dem Namen Prof. Bruno Schier verbunden. Der Wissenschaftler übernahm im Jahr 1952 den neu gegründeten Lehrstuhl für Deutsche und Vergleichende Volkskunde in Münster und gründete 1954 das Volkskundliche Seminar an der WWU. Als sudetendeutscher Ostforscher machte er in der Zeit des Nationalsozialismus als politischer und wissenschaftlicher Funktionär mit guten Beziehungen zu zahlreichen NS-Politikern, die die rassistische Politik des NS-Regimes in der besetzten Tschechischen Republik und in der Slowakei umsetzten, Karriere. In der NS-Zeit zählte Bruno Schier zu den bekanntesten Volkskundlern in Deutschland. Er publizierte unter anderem in den Parteiblättern der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), dem Völkischen Beobachter und in den Nationalsozialistischen Monatsheften. Außerdem hielt Bruno Schier zahlreiche Vorträge auf Reichs- und Gau-Tagungen der NSDAP.  

Prof. Bruno Schier<address>© WWU/Universitätsarchiv Münster, Bestand 68 Nr. 2248</address>
Prof. Bruno Schier
© WWU/Universitätsarchiv Münster, Bestand 68 Nr. 2248
Bruno Schier ignorierte die Kritik  am Rassismus der NS-Volkskunde

Die Diasammlung Hausforschung brachte er mit an die WWU und nutzte sie, um seine bereits in den 1950er-Jahren umstrittenen Forschungen zur Kulturraumforschung fortzusetzen. Die Aufnahmen zeigen fast ausschließlich Hausgiebel und Ansichten von Bauernhäusern aus Mittel- und Nordeuropa. Häufig ist die Stirnseite der Gebäude zu sehen oder Skizzen stellen die Bauernhäuser aus verschiedenen Perspektiven dar. Auf einigen Dias sind auch Bewohner abgelichtet. Genauere Angaben zum Entstehungszeitpunkt, Ort des Bildes und Fotografen fehlen oft. „Die Bauernhäuser dienten Bruno Schier als Indizien für den ‚Geist‘ und die ‚Begabung‘ eines ‚Volkes‘. Denn diese Gebäudeform interpretierte er als Belege kultureller Hierarchien“, erläutert Elisabeth Timm. Zu seinen zentralen Thesen zählte das „west-östliche Kulturgefälle“, das Bruno Schier anhand von Hausmerkmalen auf Karten beweisen wollte.

Das kulturelle Niveau der Gesellschaft machte er dabei vom Aussehen der Gebäude abhängig. Die Kritik am Rassismus der NS-Volkskunde sowie der Volks- und Kulturbodenforschung ignorierte er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Stattdessen beharrte Bruno Schier, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf seinen wissenschaftliche Positionen. Auch seine 1931 erschienene Schrift „Hauslandschaften und Kulturbewegungen im östlichen Mitteleuropa“, mit der er sich an der Universität Leipzig habilitierte, erschien 1966 in einer nur gering überarbeiteten Neuauflage.
Dank der Mobilisierung alter Netzwerke und mit Unterstützung des Provinzialverbandes beziehungsweise des heutigen Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe sowie der westfälischen Heimatbewegung gelang Bruno Schier die Berufung in Münster – es war in der Nachkriegszeit bundesweit eine der ersten Berufungen im Fach Volkskunde. Zugleich stellte es die erste Einrichtung eines volkskundlichen Lehrstuhls an einer Hochschule dar, an der das Fach bis dahin weder durch gewidmete Professuren noch durch ein eigenes Institut etabliert war.

Bis zur Gründung des Volkskundlichen Seminars im Jahr 1954 waren volkskundliche Themen wie die Bauernhausforschung an der Universität Münster in der Germanistik bearbeitet worden. Historisch betrachtet, ist die Einrichtung des Lehrstuhls und die damit verbundene geisteswissenschaftliche „Ostforschung“ im Kontext des Kalten Krieges zu sehen. Bruno Schier erweiterte die Diasammlung in Münster und nutzte sie unter anderem in seinen Lehrveranstaltungen. „Für die damalige Zeit waren Dias eine moderne Technologie. Es wurden eigens Projektoren angeschafft, um die Bilder in Vorlesungen zeigen zu können“, schildert Elisabeth Timm. „Aus heutiger Sicht ist die Sammlung ein sehr wichtiges wissenschaftliches und historisches Dokument der Kulturraumforschung.“ Damit die Dia-Aufnahmen auch in Zukunft genutzt werden können, wurden sie bereits digitalisiert. „Es ist aber nur eine ‚Hilfssicherung‘, bis es ein einheitliches Sammlungssystem an der Universität gibt“, betont Elisabeth Timm.

Die Aktivitäten von Bruno Schier während des Nationalsozialismus und seine wissenschaftlichen Positionen, die schon seit langem widerlegt sind, wurden in Jubiläumswürdigungen und in Nachrufen nach seinem Tod 1984 nicht thematisiert. So schrieb der Münsterische Anzeiger am 14. Februar 1984 in seinem Nachruf: „Seit seiner Berufung an die Universität Münster (1951) hat sich Prof. Schier um den Ausbau der volkskundlichen Institutionen in Westfalen mit großem Erfolg bemüht.“

Um die Geschichte des Seminars aufzuarbeiten, haben Masterstudierende unter der Leitung von Elisabeth Timm die Dauerausstellung „zehn fußnoten. Wie die Volkskultur zur Universität kam“ erarbeitet. Seit Juni 2014 gibt es zehn verschiedene Stationen in den Räumen des Seminars und der Bibliothek zu entdecken.

 

Serie

So vielfältig wie die Welt der Wissenschaft, so vielfältig sind auch die Sammlungen der Universität Münster. Ausgestopfte Tiere, antike Skulpturen, Gewebeproben, lebende Pflanzen – all diese Dinge sind für Forschung und Lehre unverzichtbar. Bereits in den Gründungsjahren der Hochschule Ende des 18. Jahrhunderts wurden die ersten anatomischen Modelle angeschafft. Heute stehen Forschern und Studierenden 26 Sammlungen aus allen Wissensgebieten zur Verfügung. Mehrere davon stellen wir Ihnen in der Serie "Sammlungen an der WWU" vor.

 

Autorin: Kathrin Nolte

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 6, Oktober/November 2017.

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