Mit einer Pille auf Hochtouren
Amphetamine, Anabolika, Wachstumshormone: Die Liste der Substanzen, die im Sport als Doping-Mittel eingesetzt werden, ist lang. Während die unerlaubte Manipulation des Körpers in der öffentlichen Debatte vor allem den Leistungssport betrifft, könnte eine andere Art des Dopings bald den Alltag vieler Menschen berühren: das "Hirndoping". Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff, und wie verbreitet ist diese Art der Leistungssteigerung?
"Der Begriff 'Hirndoping' ist gebräuchlich, aber schlecht gewählt. Denn Doping ist negativ besetzt und impliziert Illegalität", sagt Dr. Matthias Herrgen vom Philosophischen Seminar der WWU. "Wir wollen jedoch eine neutrale Diskussion darüber führen, ob und unter welchen Umständen es hilfreich und legitim sein kann, die Leistungsfähigkeit des Gehirns zu verbessern." Treffender sei daher der Begriff „Neuro-Enhancement“ (vom englischen "to enhance", verbessern). Unter "pharmakologischem Neuro-Enhancement" verstehen viele Experten die Einnahme verschreibungspflichtiger Medikamente, die von Gesunden genutzt werden, um ihre geistige Leistung zu steigern.
Studien zur Verbreitung des Neuro-Enhancements liefern uneinheitliche Ergebnisse und sind häufig nicht ohne Weiteres vergleichbar, unter anderem, da teils unterschiedliche Definitionen des Begriffs zugrunde liegen. In Deutschland nahmen laut einer Umfrage, die das Robert-Koch-Institut 2011 veröffentlichte, 1,5 Prozent der Menschen innerhalb der letzten zwölf Monate mindestens einmal verschreibungspflichtige Psycho- und Neuropharmaka ohne medizinische Notwendigkeit ein, um ihre geistige Leistungsfähigkeit zu verbessern. In bestimmten Bevölkerungsgruppen scheint der Anteil jedoch höher zu sein: Einer Befragung des HIS-Instituts für Hochschulforschung unter knapp 8000 Studierenden von Universitäten und Fachhochschulen zufolge, 2012 veröffentlicht, nehmen rund fünf Prozent aller Studierenden verschreibungspflichtige Medikamente, Schmerzmittel, Beruhigungsmittel, Psychostimulanzien oder Aufputschmittel ein.
Neben Studium und Schule ist die Arbeitswelt prädestiniert für Bestrebungen, die Leistungsfähigkeit des Gehirns zu optimieren. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ("baua", 2015) ließ den Einfluss psychischer Belastungen am Arbeitsplatz auf das Neuro-Enhancement untersuchen, wobei nur die Einnahme verschreibungspflichtiger Medikamente – ohne ärztliche Indikation – berücksichtigt wurde. Demnach nahmen 2,8 Prozent mindestens einmal innerhalb der vergangenen zwölf Monate eine dieser Substanzen. 8,3 Prozent der Befragten hatten mindestens einmal in ihrem Leben "Hirndoping" betrieben. Befragt worden waren Arbeitnehmer aus vier Berufsgruppen mit hohen kognitiven und zeitlichen Anforderungen: Ärzte, Publizisten, Werbefachleute und Softwareentwickler.
Einen "Tausendsassa" zur Steigerung der Hirnleistungen gibt es bislang noch nicht
Ein Beispiel für einen Wirkstoff, der zweckentfremdet wird, ist Modafinil. Er wird Patienten mit Narkolepsie ("Schlafkrankheit") verschrieben, aber auch von Gesunden genutzt, um die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern und beispielsweise die Aufmerksamkeit zu fördern. Ähnliches gilt für Methylphenidat, das zur Behandlung des ADHS-Syndroms eingesetzt wird. Antidementiva, also Arzneien, die zur Behandlung von Demenzerkrankten eingesetzt werden, sollen die Gedächtnisleistung und die Lernfähigkeit bei Gesunden steigern. Weiter gefasst fallen unter "Neuro-Enhancement" auch Versuche, die geistige Leistungsfähigkeit mit frei erhältlichen Substanzen wie Koffein und Ginkgo-Extrakt zu steigern oder mit nicht pharmazeutischen Mitteln wie Meditation, aber auch mit illegalen Drogen wie Kokain.
Experten stellen den "Hirndoping"-Mitteln im Hinblick auf Ihre Wirksamkeit ein durchwachsenes Zeugnis aus – einen Tausendsassa, der viele Hirnleistungen wie Gedächtnis, Entscheidungsfähigkeit, Konzentration oder gar die Intelligenz in all ihren Facetten steigern kann, gibt es nicht. Methylphenidat kann die Gedächtnisleistung verbessern. Andere Effekte, die dem Mittel zugeschrieben werden – beispielsweise die Erhöhung der Aufmerksamkeit –, wurden jedoch in vielen Studien nicht nachgewiesen. Modafinil schneidet besser ab: Es hilft gegen Müdigkeit und kann beispielsweise die Fähigkeit verbessern, logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Entwicklung neuer, kreativer Ideen dagegen wird durch die Einnahme nicht verbessert.
Experten warnen davor, dass Neuro-Enhancement soziale Schieflagen verursachen kann
Bislang ist weitverbreitetes Neuro-Enhancement Zukunftsmusik. "Doch es ist davon auszugehen, dass uns durch neue Entwicklungen künftig wirksamere und auf die Bedürfnisse von gesunden Menschen maßgeschneiderte Mittel zur Verfügung stehen werden. Die Frage ist: Was wollen wir gesellschaftlich akzeptieren?", sagt Matthias Herrgen. Dr. Birgit Beck, Expertin für Neuroethik am Forschungszentrum Jülich, ergänzt: "In einer bestimmten Situation – beispielsweise in einer stressigen Prüfungsphase oder vor einem wichtigen Kongress – kann es für den Einzelnen als eine gute Idee erscheinen, seine Leistungsfähigkeit zu steigern. Wir müssen aber auch darüber nachdenken, aufgrund welcher gesellschaftlichen und persönlichen normativen Voraussetzungen solche Wünsche allererst entstehen." Die Wissenschaftler stellen sich beispielsweise die Frage, ob die Gefahr droht, dass die Menschen ihren Körper an die Leistungsanforderungen der Arbeitswelt anpassen, statt die Arbeit auf ihre Leistungsfähigkeit zuzuschneiden.
Dass Neuro-Enhancement auch sozialen Schieflagen verursachen könnte, darauf weist Privatdozent Dr. Johann Ach, Philosoph und Geschäftsführer des Centrums für Bioethik der WWU, hin: wenn Menschen die Präparate dazu nutzen, sich Vorteile im sozialen Wettbewerb zu verschaffen oder nicht alle Menschen gleichermaßen Zugang dazu haben. "Andererseits müssen wir uns auch die Frage stellen: Wenn Neuro-Enhancement möglich ist – ist die Gesellschaft dann nicht auch verpflichtet, denjenigen, die sozusagen 'von Natur aus' zu kurz gekommen sind, durch eine Art 'kompensatorisches Enhancement' Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe zu verschaffen, die sie mit eigener Kraft nicht hätte erreichen können?"