„Ich spüre die perfekte Atmosphäre“
Die Definition ist schlicht und einfach: Der Dirigent ist der Chef des Orchesters. Aber was bedeutet das konkret? Wie formt und beeinflusst er das Ensemble? Und würde es notfalls auch ohne den Chef mit dem Taktstock gehen? Im Interview mit Norbert Robers verrät Miloš Dopsaj von der Musikhochschule der Universität Münster, wie er seine Höchstleistung erreicht und ob es stimmt, dass man als Dirigent reichlich Selbstbewusstsein braucht.
Einer der bekanntesten Dirigenten, der 1989 verstorbene Österreicher Herbert von Karajan, hat gesagt: ‚Orchester haben keinen eigenen Klang; den macht der Dirigent.‘ Hat er Recht?
Das hat er natürlich sehr zugespitzt formuliert. Vor allem ein Dirigent, der ein Orchester neu aufbaut oder übernimmt, kann ein Ensemble aber durchaus in eine bestimmte Richtung steuern und seinen Stempel aufdrücken.
An Selbstbewusstsein scheint es der Zunft jedenfalls nicht zu mangeln. Ein anderer Dirigent meinte einst: ‚Ich bin nicht perfekt, aber als Dirigent verdammt nah dran.‘
Keine Frage: Ohne Selbstvertrauen kann man diese exponierte Rolle nicht gut ausfüllen. Man steht als Dirigent vor 60 oder 80 hervorragend ausgebildeten Musikern, die ebenso mit reichlich Selbstvertrauen ausgestattet sind. Aber in einem Orchester zählt nicht das Individuum, sondern das Ensemble. Die Aufgaben eines Dirigenten bestehen folglich darin, einerseits die individuell bestmöglichen Leistungen ,herauszukitzeln‘ und andererseits ein optimales Miteinander zu organisieren. Dafür braucht man definitiv eine gestandene Persönlichkeit.
Und wie viel Show steckt in Form von Gestik darin?
Ja, auch das gehört dazu, wir stehen schließlich auf einer Bühne.
Jein. Zwar stimmt es, dass ein Dirigent die Übersicht behalten muss. Was ihn aber von einem Trainer unterscheidet, ist die Tatsache, dass er nicht nur am Rande des Spielfelds steht, sondern mittendrin ist.
Und wenn der Dirigent mal ausnahmsweise kurz vor dem Konzert ausfällt und das Orchester allein spielen muss – wie groß ist der Unterschied?
Bei 60 Orchestermitgliedern kann es zu bestimmten Stellen 120 Meinungen geben. Einer muss das bündeln und entscheiden. Anders gesagt: Ja, auch ohne Dirigenten könnte es ein schönes Konzert werden. Aber mit ihm ist es ein besseres.
Wie Sie bereits angedeutet haben: Jeder Musiker ist irgendwie auch ein kleiner Star. Wie viel Individualität lassen Sie denn zu?
Am besten ist es, wenn jeder Musiker in den Proben etwas anbietet. Der Dirigent ist dafür da, diese Angebote zu einem harmonischen Gesamtkonstrukt zu formen. Mein Ziel ist es, dass wir alle miteinander glücklich sind.
Und wie funktioniert diese ,Formung‘ konkret: Kommunizieren Sie mit den Musikern, indem Sie mal eine Augenbraue hochziehen, durch eine spezielle Handbewegung oder mit einem grimmigen Gesichtsausdruck?
Das Wichtigste ist das Training, also die Proben. Das sind die Stunden, in denen man einzelne Stellen übt und bespricht. Ein Dirigent teilt seinem Orchester konkret und detailliert mit, was es bedeutet, wenn er den Taktstock weich oder kräftig schwingt oder wenn er jemanden mit einem bestimmten Gesichtsausdruck anschaut.
Das bedeutet, dass Sie während des Konzerts alle Musiker ständig im Blick behalten müssen?
Exakt. Die Musiker müssen wiederum ihre Noten und den Dirigenten lesen, um sich abzusichern.
Zwinkern Sie dabei auch mal jemandem zu?
Als Zeichen der Bestätigung kommt das durchaus vor. Die Körpersprache ist ohnehin wichtig – wohin ich mich drehe und ob ich mich vielleicht ,aufpluster‘, um mehr Volumen beziehungsweise ein Forte einzufordern.
Und was machen Sie, wenn nur einer von 60 Orchester-Mitgliedern Ihrem Geschmack nach permanent zu leise spielt?
Ich gebe beispielsweise ein Handzeichen, das wahrscheinlich kein Zuschauer wahrnehmen wird. Oder ich warte die Millisekunde eines Augenkontakts ab und gebe dann ein entsprechendes Zeichen mit meiner Mimik. Einen falschen Ton kann allerdings auch ein Dirigent nicht mehr korrigieren. Im Konzert geht es in erster Linie ums Motivieren. Ein guter Dirigent sendet das Signal aus: ,Ich bin bei euch, ich lasse euch auch an den schwierigen Stellen nicht allein.‘ Und ich bekomme im Idealfall das Signal zurück, dass jeder Einzelne und damit das Orchester insgesamt bereit ist, über sich hinauszugehen.
Ein guter Dirigent muss also ein guter Motivator sein?
Das ist sicher eine der wichtigsten Eigenschaften. Am Ende kann ich mit dem Taktstock machen, was ich will – wenn das Orchester nicht mitmacht, wird das Konzert nicht gut.
Somit ist auch Ihre Tagesform ein wichtiger Faktor?
Genau. Dabei sollte man seine privaten Sorgen oder Probleme außen vor lassen. Das erwarte ich auch von jedem Mitglied des Orchesters.
Sie sind Fagottist. Achten Sie auf dieses Instrument während eines Konzerts besonders?
Ich will nicht bestreiten, dass dies mindestens im Unterbewusstsein passiert. Aber am Ende zählt das gesamte Team. Und deswegen muss unsere Kommunikation miteinander vor allem eines sein: eindeutig.
Hatten Sie nach einem Konzert schon mal das Gefühl, dass es perfekt war?
Ja, durchaus. Wobei das für mich nicht bedeutet, dass jede einzelne Note korrekt war. Entscheidend ist für mich das Gefühl, als Orchester das Publikum begeistert zu haben. Diese perfekte Atmosphäre spüre ich, und davon zehre ich lange.
Als Werkzeuge dienen Ihnen nicht nur der Taktstock, sondern auch die Partitur – also die schriftliche Übersicht über alle im Werk enthaltenen Stimmen beziehungsweise Noten. Was ist wichtiger?
Sie haben zu unserem Gespräch die Partitur von Tschaikowskis ,Nussknacker‘ mitgebracht. Sie ist fast so dick wie ein Buch und neben den Noten voller Informationen. Lernen Sie eine Partitur auswendig?
Es ist nahezu unmöglich, während des Dirigierens all diese Informationen aufzunehmen und in Sekundenschnelle zu verarbeiten. Deswegen ist es wichtig, dass man das Stück sehr gut kennt. Ich mache mir auch mit dem Bleistift einige Notizen in die Partitur, zum Beispiel, wenn man etwas hervorheben möchte ...
Mich erinnert diese Vielzahl an Infos spontan ans Autofahren, bei dem man auch gleichzeitig viele Eindrücke verarbeiten muss und wo Routine hilft ...
Das ist eine gute Analogie. Sie haben das Fahren gelernt, und deswegen sind Sie auch in der Lage, mit einer gewissen Lockerheit zu fahren. Sie wissen, was zu tun ist, und diese Selbstsicherheit habe ich auch als Dirigent.
Haben Sie an einem Konzerttag spezielle Routinen?
Vormittags findet üblicherweise die Generalprobe statt, am Nachmittag schaue ich mir erneut die Partitur an, und abends gibt es das Konzert. Wobei ich an einem solchen Tag ohnehin an nichts anderes als an das Konzert denke, weil ich eine Höchstleistung bringen muss.
Die auch schweißtreibend sein kann, oder?
Aber sicher doch, manchmal verbraucht man während eines Konzerts mehrere Hemden. Es ist körperlich anstrengend, mitunter über mehrere Stunden lang geradezustehen und voll konzentriert zu sein – und das mit manchmal sehr großen und komplexen Orchesterwerken. Am Ende weiß man, was man getan hat. Nein, das ist zu schwach: Nicht selten ist man am Ende schlicht und einfach fertig. Aber auch glücklich. Unser Beruf ist wunderschön, weil er mir sehr viel zurückgibt.
Zur Person
1981 in Belgrad (Serbien) geboren, absolvierte Miloš Dopsaj dort zunächst ein Fagottstudium, das er 2004 an der Universität der Künste Berlin fortsetzte und mit Diplom und Konzertexamen abschloss. Bereits mit 18 Jahren erhielt er seine erste Festanstellung als Solo-Fagottist. Es folgten Festanstellungen an der Nationaloper Belgrad und beim Osnabrücker Symphonieorchester. 2016 wechselte er als Solo-Fagottist zum Sinfonieorchester Münster. Seit drei Jahren ist er als Dozent für das künstlerische Hauptfach Fagott an der Musikhochschule Münster verantwortlich und hat im Wintersemester zusätzlich die Leitung des Hochschulorchesters übernommen.
Terminhinweis
Am 15. Dezember lädt die Musikhochschule ab 19.30 Uhr zum Weihnachtskonzert des Hochschulorchesters in die Waldorfschule (Rudolf-Steiner-Weg 11) ein. Der Eintritt ist frei, um Spenden für die Orchesterarbeit wird gebeten. Der Festsaal bietet 470 Plätze. Das erste Weihnachtskonzert findet am 13. Dezember ab 19.30 Uhr bei sehr begrenzter Saalkapazität in der Musikhochschule (Ludgeriplatz 1) statt.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 10. Dezember 2025.