
„Wir gehen immer mehr in eine Mensch-Maschine-Gesellschaft“
Die „Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik“ gilt als wichtigste Plattform der Wirtschaftsinformatik-Community im deutschsprachigen Raum. 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Wissenschaft und Wirtschaft tauschen sich noch bis zum 17. September über den Stand der aktuellen Forschung und Unternehmenspraxis aus. 2025 feiert die Tagung ihre 20. Ausgabe an der Universität Münster – dem Ort, an dem die Tagung im Jahr 1993 zum ersten Mal stattfand. Über das Thema der „WI2025“, „Digital Future of Society and Business“ (Digitale Zukunft von Gesellschaft und Wirtschaft), sprach Brigitte Heeke mit den Veranstaltern der „WI2025 in Münster“, Prof. Dr. Jan vom Brocke und Prof. Dr. Tobias Brandt.
Digitale Technologien fordern uns heraus – nicht nur als Individuum, sondern auch als Gesellschaft. Wie hat sich das seit der ersten Ausgabe der Tagung im Jahr 1993 verändert?
Was ist aus Ihrer Sicht die bedeutendste Veränderung der vergangenen zehn Jahre?
Jan vom Brocke: Digitale Technologie wächst immer mehr in unseren Lebensalltag hinein. Wir bekommen immer mehr Rechenpower in immer kleineren Einheiten unter, die dann zum Beispiel auch in Objekte des Alltags eingebaut werden können, etwa Brillen. Die Vernetzung erlaubt es, dass Geräte Daten empfangen und senden können und damit zum ,Leben‘ erweckt werden, wie etwa die smarte gegenüber der analogen Zahnbürste.
Welchen Einfluss übt die enorme Entwicklung der künstlichen Intelligenz in jüngster Zeit auf die Wirtschaftsinformatik aus?
Jan vom Brocke: Ganz aktuell bringt die künstliche Intelligenz natürlich den ,Turbo‘ für diese Entwicklungen. In einer Welt, in der dank der Digitalisierung beinahe alles möglich scheint, ist es jetzt von zentraler Bedeutung, nicht nur alles Mögliche zu tun, sondern genau Gutes zu tun. Hier setzt die moderne Wirtschaftsinformatik an, um herauszufinden, wie moderne Technologie zum Wohle von Wirtschaft und Gesellschaft genutzt werden kann. Dafür gibt es viele inspirierende Beispiele auf der WI2025 in Münster. Wir haben eine KI gebaut, die alle wissenschaftlichen Beiträge der Konferenz praxisorientiert zusammenfasst und auch kurzweilige Podcasts zu jedem dieser Beiträge erstellt.
Welche sozialen und wirtschaftlichen Potenziale können digitale Technologien derzeit noch heben?
Jan vom Brocke: In Zukunft werden wir immer mehr digitale Assistenzsysteme zur Verfügung haben, etwa um gesünder zu leben, die Umwelt zu schonen und auch wettbewerbsfähiger zu werden. Wir werden es immer mehr zu schätzen wissen, solche Hinweise zu erhalten und sie mit unserer eigenen Beurteilung in Einklang zu bringen. So werden wir hoffentlich bessere Entscheidungen treffen können, aber auch kritisch hinterfragen, was uns empfohlen wird. Wir gehen damit immer mehr in eine Mensch-Maschine-Gesellschaft. Die Wirtschaftsinformatik als Wissenschaftsdisziplin trägt genau dazu bei, einen wertstiftenden Einsatz von Technologie zu ermöglichen. Dem European Research Center for Information Systems ERCIS gehören mehr als 30 Forschungsinstitutionen in ganz Europa und darüber hinaus an. Dieses Jahr wurde hier das Forschungslab ,Flow Factory‘ gegründet, an dem der Einsatz von KI zum Wohle von Wirtschaft und Gesellschaft erforscht wird.
Tobias Brandt: Es ist wichtig, neben den großen Potenzialen von Technologien auch die realen Risiken im Blick zu behalten. Dabei denke ich weniger an Szenarien einer allmächtigen Super-KI, sondern vielmehr an ganz konkrete Entwicklungen, die wir heute schon beobachten können. Ein Beispiel ist der Einfluss sozialer Medien auf Jugendliche – ein Thema, das in der Community mittlerweile deutlich kritischer diskutiert wird als noch vor einigen Jahren, auch weil wir als Forschende unsere anfängliche Begeisterung selbstkritisch hinterfragt haben. Ähnlich verhält es sich mit KI: Wir wissen noch nicht, welche Folgen die Interaktion mit sehr real wirkenden, aber eben künstlichen Persönlichkeiten langfristig für die soziale Entwicklung haben wird. Das zeigt aber auch, wie sich die Wirtschaftsinformatik in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Wir befassen uns heute nicht mehr nur mit den technischen und ökonomischen Möglichkeiten von IT, sondern auch mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen.
Brauchen wir staatliche Regulierungen für den Einsatz von KI, um den ethischen Herausforderungen gerecht zu werden?
Tobias Brandt: Das ist ohne Frage ein wichtiger Baustein – deshalb haben wir auf der WI2025 auch einen eigenen Workshop dazu. Gleichzeitig greift Regulierung allein zu kurz. Viel entscheidender ist, dass wir eine klare Strategie entwickeln, wie wir mit den rasanten technologischen Entwicklungen umgehen wollen. Gerade in Deutschland war das in den vergangenen Jahrzehnten oft nicht erkennbar. Ich würde im Gegenzug eher in den Raum stellen, dass wir zur digitalen Unmündigkeit erzogen wurden.
Wie meinen Sie das?
Tobias Brandt: Ich denke beispielsweise an das oft herangezogene Klischee überforderter älterer Menschen. Gerade die Coronapandemie hat verdeutlicht, dass sie durchaus digital kompetent sein können, wenn man ihnen nicht dauernd das Gegenteil einredet. Umso wichtiger ist es jetzt, dass wir als Fachcommunity nicht nur Technologien erforschen, sondern uns auch aktiv in politische Diskussionen und Entscheidungsprozesse einbringen. Genau dazu haben wir auf der Tagung eine Podiumsdiskussion.
Das Spektrum in den über 30 Veranstaltungen reicht von Data Science über Mensch-Maschinen-Interaktion bis hin zur Smart City. Über welche Impulse freuen Sie sich am meisten?
Jan vom Brocke: Wir freuen uns am meisten über die vielen Menschen, Kolleginnen, Kollegen und Studierenden, die nach Münster gekommen sind, um mit uns die Chancen und Herausforderungen unserer spannenden digitalen Zukunft zu diskutieren. Ganz besonders sind wir von den vielen internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmern inspiriert, die nach Münster kommen, weil sie diesen Austausch in unserer sehr weltoffenen Stadt mit so vielen hoch talentierten Studierenden so sehr schätzen. Die Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik kommt nun – nach vielen Stationen in Deutschland, der Schweiz und Österreich – zur 20. Ausrichtung der Konferenz zurück nach Münster. Vieles hat sich seither getan. Münster hat sich zu einem Standort etabliert, diese sehr dynamischen Entwicklungen zu gestalten.