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Münster (upm/nor).
Auf dem Bild sind eine Frau und ein etwa siebenjähriger Junge zu sehen, die logopädische Sprachübungen vor einem Spiegel durchführen.<address>© stock.adobe.com - Peakstock</address>
Eine frühe Unterstützung bei Sprachentwicklungsstörungen ist für Kinder besonders wichtig.
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„Sprachstörungen erhöhen das Risiko für Mobbing und Ausgrenzung“

Klinikdirektorin Katrin Neumann über die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Zum ersten Mal seit ihrer Gründung 1982 lädt die Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V. vom 25. bis 28. September zu ihrer wissenschaftlichen Jahrestagung an die Universität Münster ein. Norbert Robers sprach mit der Direktorin der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Prof. Dr. Katrin Neumann, über aktuelle Themen und Forschungsschwerpunkte.

 

Einer der Schwerpunkte der Tagung sind „Kommunikationsstörungen als bevölkerungsmedizinische Herausforderung“. Haben Sie den Eindruck, dass in unserer Gesellschaft in Sachen Kommunikation etwas grundsätzlich falsch läuft?

Es lässt sich nicht pauschal sagen, dass in unserer Gesellschaft grundsätzlich falsch kommuniziert wird. Fakt ist aber, dass es zunehmend Kinder mit unbehandelten oder zu spät erkannten Kommunikationsstörungen gibt – mittlerweile sind zehn bis 14 Prozent betroffen. Dazu zählen Sprachentwicklungsstörungen, Aussprachestörungen, Stottern und ähnliche Probleme.

Welche Folgen ergeben sich daraus?

Solche Störungen wirken sich oft bis ins Schul- und Erwachsenenalter aus. Sie erhöhen das Risiko für Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten sowie psychische Erkrankungen und können zu sozialen Problemen wie Mobbing oder Ausgrenzung führen. Deshalb sind eine frühzeitige Diagnostik und eine fachgerechte Versorgung von zentraler Bedeutung.

Ein Porträtbild von Prof. Dr. Katrin Neumann<address>© UKM</address>
Prof. Dr. Katrin Neumann
© UKM
Wie hat sich denn insgesamt die Zahl der phoniatrischen und pädaudiologischen Erkrankungen in den vergangenen Jahren entwickelt?

Wir beobachten vor allem einen Anstieg altersbedingter Probleme: Je älter die Bevölkerung, desto häufiger treten Stimm- und Schluckstörungen sowie Hörverluste auf. Auch Sprachstörungen nehmen im Alter zu, etwa als Folge von Schlaganfällen oder bei neurologischen Erkrankungen wie Parkinson. Zudem hat die Covid‑Pandemie einen deutlichen Behandlungsstau – etwa bei Sprachtherapien oder der Therapie von Lese‑ und Rechtschreibschwierigkeiten – verursacht und die psychosozialen Belastungen bei Kindern verstärkt, sodass der Bedarf an Unterstützung insgesamt gestiegen ist.

Sind das auch wichtige Themen auf der Jahrestagung?

Ja, das werden Schwerpunkte sein. Außerdem widmen wir uns der Versorgung von Menschen mit Behinderung. Ein Beispiel: Die Untersuchung von mehr als 1.000 Menschen mit geistiger Behinderung ergab, dass 44 Prozent von ihnen unter Hörstörungen litten. Trotzdem werden nur wenige Betroffene therapeutisch versorgt. Der Grund dafür liegt häufig nicht in fehlender Diagnostik, sondern in Unkenntnis, Ablehnung oder fehlender Koordination seitens der Betroffenen, des Betreuungs- und des medizinischen Fachpersonals. Es braucht also neben technischen Angeboten auch gezielte Schulungen für Betreuer, Aufklärung der Öffentlichkeit sowie eine umfassende Hörgeräteversorgung plus Training und Einbindung des Umfelds, um die Lebensqualität zu verbessern.

Und mit Blick auf junge Patienten?

Es gibt mittlerweile vielversprechende Alternativen zur klassischen Einzeltherapie. Die Online-Teletherapie wirkt beispielsweise besonders gut, wenn die Eltern aktiv eingebunden sind. Kleingruppen-Therapien sind sehr effektiv, werden in Deutschland aber kaum angeboten. In einem aktuellen Projekt von uns werden Online-Gruppen mit zwei bis drei Kindern, einer Therapeutin und den Eltern getestet. Die vorläufigen Ergebnisse sind positiv und deuten darauf hin, dass solche Modelle helfen könnten, die Wartezeiten zu verkürzen und den Fachkräftemangel abzumildern.

Welche Highlights erwarten die Gäste der Jahrestagung?

Ein Höhepunkt ist der Besuch einer hochrangigen Vertreterin der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Präsidentin der International Society of Audiology sowie weiterer internationaler Gäste, die auch an der Gestaltung des Programms mitwirken. Ich werde erste Ergebnisse einer weltweiten Erhebung zum Status des Neugeborenen-Hörscreenings vorstellen. Diese Daten sollen in den kommenden WHO-Statusbericht einfließen. Und es wird eine sehr internationale Konferenz: Wir erwarten Gäste aus den USA, Großbritannien, Belgien, Indien, Indonesien und Pakistan. Praxisbeispiele demonstrieren die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, etwa Partnerschaften zwischen Münster und Universitäten in Indonesien und Pakistan.

Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen wie etwa der Medizin, Pädagogik und Psychologie für den Erfolg der Forschung?

Die Phoniatrie und Pädaudiologie sind interdisziplinäre Fachgebiete par excellence. An unserer Klinik arbeiten Fachkräfte aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Audiologie, Audiometrie, Physik, Hörakustik, Informatik, Linguistik, Logopädie und Heilpädagogik eng zusammen – sowohl in der klinischen Arbeit als auch in der Forschung. Entsprechend sind zahlreiche multidisziplinäre Projekte aus der Grundlagen-, Translations- und Versorgungsforschung an der Klinik angesiedelt.

Geben Sie doch mal bitte ein konkretes Beispiel für diese Zusammenarbeit …

Kürzlich wurde die weltweit erste tiefe Hirnstimulation bei einer Person mit schwerstem Stottern durchgeführt. Federführend war das Universitätsklinikum Münster in enger Zusammenarbeit der Fachrichtungen Phoniatrie, Neurologie, Neurochirurgie und Logopädie. Ein weiteres Projekt verknüpft die Fachrichtungen Phoniatrie, Pädaudiologie, Logopädie und Hörgeschädigten-Pädagogik. Ziel ist es, Eltern durch ein gezieltes Training beim gemeinsamen interaktiven Betrachten von Bilderbüchern dazu zu befähigen, die Sprachentwicklung ihrer Kinder mit Hörstörung sowie ihre eigene Kommunikation zu verbessern.

Die Phoniatrie und Pädaudiologie hat ihre Wurzeln in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (HNO) und war ursprünglich ein Teilgebiet dieser Fachrichtung. Im Jahr 1992 erhielt sie einen eigenständigen Status. Hat sich diese „Abkoppelung” bewährt?

Definitiv. Im Gegensatz zur primär operativ ausgerichteten HNO liegt der Fokus dieses Fachgebiets auf Stimme, Sprechen, Sprache, Hören und Schlucken sowie der entsprechenden Rehabilitation. Dies umfasst die Diagnostik bei Kindern und Erwachsenen, die Hörimplantatversorgung, die Stimm-/Sprech-, Sprach- und Schluckrehabilitation sowie die Beratung. Ein Beispiel für die Vorteile dieser Selbstständigkeit ist unsere Klinik: Sie feiert 50-jähriges Bestehen, hat das ‚European Manual of Phoniatrics‘ federführend herausgegeben und ist international vernetzt. Solche Aktivitäten benötigen personelle Ressourcen, Forschungskapazität und formale Weiterbildungsgänge. Wenn Kliniken ihre Phoniatrie wieder in die HNO eingliedern, drohen Konsequenzen: Spezialwissen und Ressourcen könnten verlorengehen, die Facharztweiterbildung könnte eingeschränkt werden, und der regionale wie überregionale Versorgungsauftrag könnte nur schwer erfüllt werden. Kurzum: Die Eigenständigkeit stärkt Forschung, Lehre und eine spezialisierte Patientenversorgung.

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