
„Menschenrechte werden verteidigt“
Vor zehn Jahren formierte sich die zivile Seenotrettung (ZSNR) als Reaktion auf das Ende staatlicher Rettungsmaßnahmen wie beispielsweise die italienische Marineoperation „Mare Nostrum“. Rund 175.000 Menschen wurden seitdem vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet. Die Politikwissenschaftlerin Dr. habil. Mareike Gebhardt gibt im Interview mit Anke Poppen Einblicke in das Forschungsprojekt „Zivile Seenotrettung als Kristallisationspunkt des Streits um Demokratie“ (ZivDem), das sie mit Kolleginnen des „Forums internationale Wissenschaft“ an der Universität Bonn durchführt. Es wird von der Gerda Henkel Stiftung gefördert.
Welchen Stellenwert hat die zivile Seenotrettung beim Schutz Geflüchteter vor dem Ertrinken im Mittelmeer?
Eine zentrale. Sie ist die einzige organisierte Infrastruktur, die sich allein der Rettung von Leben verschreibt und besteht aus einer Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus unterschiedlichen europäischen Ländern. Staatliche beziehungsweise sogenannte überstaatliche Akteure wie etwa die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache ,Frontex‘ sind auf Grenzsicherung fokussiert. Die italienische Küstenwache ist ebenfalls maßgeblich an Rettungen im zentralen Mittelmeer beteiligt. Andere Anrainerstaaten wie Malta reagieren seit Jahren nicht auf Notrufe. Die sogenannte libysche Küstenwache bringt Menschen nach Libyen zurück – von einer Rettung kann dabei kaum die Rede sein. Ursprünglich ist die ZSNR angetreten, um die Lücke an Rettungskapazitäten vorübergehend zu schließen. Eine europäische Rettungsorganisation ist allerdings nicht in Sicht. Das macht die ZSNR unabdingbar.
Auf welcher Rechtsgrundlage handelt die ZSNR?
Sie operiert nach internationalem Seerecht: Wenn sich ein Schiff in Seenot befindet, ist jede Kapitänin, jeder Kapitän zur Rettung verpflichtet. Das geht unter anderem aus der ,International Convention for the Safety of Life at Sea‘ hervor.
Wie sieht das Netzwerk der ZSNR aus, wer ist daran beteiligt?
Zu den Seacrews gehören die Schiffe mit dem gesamten Personal wie Kapitän*innen, anderen nautischen sowie medizinischen Fachkräften. Die Landcrews kümmern sich um Logistik, Öffentlichkeitsarbeit, Demonstrationen und die Spendenakquise. Das zivilgesellschaftliche Netz ist sehr breit aufgestellt und reicht von Parteien und Stiftungen über Nichtregierungsorganisationen, Kirchen, Kreative und Künstlerinnen und Künstler. Es ist also kein linkes Nischenthema, wie gelegentlich behauptet wird.
In Ihrem Forschungsprojekt richten Sie den Fokus auf Demokratie. Inwiefern wird diese im Rahmen der ZSNR verhandelt?
Die ZSNR versteht sich als Verteidigerin demokratischer Werte wie Gleichheit, Solidarität, Bewegungsfreiheit und Minderheitenschutz – und wird von Unterstützer*innen auch so verstanden. Ein völkisches Demokratieverständnis funktioniert dagegen über Ausschluss: Wer darf ins Land und von dieser Staatsform profitieren, wer nicht? Doch Demokratie steht für Menschenrechte, nicht für Ausschluss. Die ZSNR tritt Menschenrechtsverletzungen wie illegalen Zurückweisungen von Personen, die ein Recht auf ein Asylverfahren haben, entgegen. Damit verteidigt sie die europäische Werteordnung und gefährdet sie nicht etwa.
Wie sind Menschenrechtsverletzungen an Europas Außengrenzen überhaupt möglich? Wie wird dies legitimiert?
Das Grenzregime basiert auf einem rechtlichen Rahmen, der von Gesellschaften geschaffen wird. Grenzziehung funktioniert nicht ohne Gewalt – das ist ein grundsätzlicher Konflikt mit demokratischen Idealen. In Reaktion unter anderem auf den langen Sommer der Migration 2015 tendiert europäische Grenzpolitik seit zehn Jahren stärker zu undemokratischem Verhalten und schützt das Eigene vor dem vermeintlich Fremden. Dies ist auch von rassistischem und kolonialem Denken geprägt.
Ein häufiges Argument gegen die ZSNR ist, dass sie das Geschäft illegaler Schlepperbanden fördert. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Er ist empirisch nicht haltbar. Das Argument soll die Seenotrettung diskreditieren und als linke Ideologie brandmarken. Außerdem ist zu bedenken, dass es nicht nur ‚illegale Schlepperbanden‘ gibt, sondern auch Unterstützungsstrukturen. Hinzu kommt: Die meisten Menschen suchen innerhalb ihres Landes oder in benachbarten Staaten Zuflucht, nur ein Bruchteil kommt über das Mittelmeer. Daher ist das Bild der ‚Flüchtlingsmassen‘ unzutreffend.
Die öffentliche Wahrnehmung der ZSNR schwankt zwischen einer Form der Heroisierung und Kriminalisierung. In welche Richtung schlägt das Pendel stärker aus?
Zu Beginn dominierte die Heroisierung, in den letzten Jahren beobachten wir eine gegenläufige Tendenz. Dies wird von einigen Regierungen befeuert. So erlässt die Regierung in Italien Dekrete, die die Rettung erschweren, etwa indem NGOs nach einer Rettung nicht mehr automatisch den nächstgelegenen Hafen ansteuern dürfen. Diese Dekrete werden vor Gericht nicht anerkannt, da sie gegen internationales Recht verstoßen. Dennoch erreichen solche Initiativen ihr Ziel, zu einer Wahrnehmung der Rettungen als kriminelle Akte beizutragen.
Innerhalb von sieben Jahren hat sich die Zahl geflüchteter Menschen weltweit verdoppelt, der aktuelle Rekordwert liegt bei 114 Millionen. Was bedeutet dies für die ZSNR?
Auf europäischer Ebene zeichnet sich keine Lösung ab, im Gegenteil. Rechte Regierungen haben daran kein Interesse, die Fronten sind verhärtet. Die Bedeutung der ZSNR wird also weiter zunehmen. Das breite und diverse Netzwerk der zivilgesellschaftlichen Unterstützung gibt Hoffnung. Diese Stimmen sind zwar leiser, aber differenzierter. Sie schützen die Demokratie statt sie zu unterwandern.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 16. Juli 2025.