
Wie die „Bibel der Juristen“ entsteht
Heißt es „Buchhalter“ oder „Hausverwalter“? Im lateinischen Original ist von einem „dispensator“ die Rede. Wer ist wenige Sätze später in „Gefahr“ (lateinisch „periculum“), die im Gesetzestext erwähnte Familie oder ihr Vermögen? Wenn sich Sebastian Lohsse, Martin Avenarius und Thomas Rüfner einmal im Monat treffen, sind das entscheidende Fragen. Die drei Spezialisten für das römische Recht sitzen heute in der rechtshistorischen Bibliothek um einen großen Tisch, auf dem sich dicke Bücher stapeln. Jeder der drei Professoren aus Münster, Köln und Trier hat ein Notebook und handschriftliche Notizen vor sich. Sie arbeiten an der neuen deutschen Übersetzung des „Corpus iuris civilis“, einem Werk, dessen Bedeutung für Juristen und das Recht in etwa der der Bibel für Theologen und der christlichen Religion entspricht.
Die Edition, an deren siebtem Band die drei Herausgeber inzwischen arbeiten, ist Teil eines auf Jahrzehnte angelegten Langfristprojekts, das bis in die 1980er-Jahre zurückgeht. Von Anfang an war die Universität Münster beteiligt, damals mit Berthold Kupisch als einem der Begründer. Gefördert wird es von der „Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“.
Die Gesetzessammlung des oströmischen Kaisers Justinian, um deren Übersetzung es geht, entstand von 528 bis 534 n. Chr. und fand bis heute Eingang in zahlreiche moderne Gesetzeswerke und Rechtsordnungen. Die Rezeptionsgeschichte dieses spätantiken Werks sei „einzigartig“, betont Sebastian Lohsse. „Wir übersetzen die Texte der römischen Juristen, auf denen die gesamte kontinentaleuropäische Privatrechtstradition aufbaut. Und nicht nur diese, sondern beispielsweise auch die südamerikanischen Rechtsordnungen und selbst das chinesische und das japanische Privatrecht.“
Auch das Bürgerliche Gesetzbuch sei maßgeblich vom römischen Recht beeinflusst, teilweise fast unverändert. Das gelte nicht nur für zentrale Konzepte wie das des Eigentums oder etwa für die Möglichkeit, ein Testament zu errichten, sondern auch für Detailregelungen. Ein Beispiel sei die Regelung zur Vereitelung des Bedingungseintritts, § 162 Absatz 1. Hier komme zum Ausdruck, dass man sich durch treuwidriges Handeln keinen Vorteil zum Nachteil eines anderen verschaffen dürfe. Heute wie damals sei der Gerechtigkeitsgehalt dieses allgemeinen Gedankens unmittelbar einsichtig. Doch gelte das keineswegs für alle übernommenen Regelungen.
Als Beispiel nennt der Jurist das Erbrecht. „Wenn Eltern sterben, bekommen Kinder einen Pflichtteil.“ Das hatte damals eine andere Grundlage. Die Lebenserwartung war seinerzeit mit rund 30 Jahren deutlich geringer. „Erbe diente der existenziellen Versorgung.“ Heute seien verwaiste Kinder meist erwachsen und hätten ein eigenes Einkommen. „Daher entfällt die ursprüngliche Grundlage, und man kann überlegen: Soll das Pflichtteilsrecht so beibehalten oder reformiert werden?“
Im Paul-Koschaker-Raum, unter dem Dach des Juridicums, rauchen deshalb die Köpfe. Die monatliche Arbeitssitzung dauert drei Tage. Sie läuft so ähnlich ab wie wohl überall beim Verfassen gemeinsamer Texte mit mehreren Beteiligten: Mal überwiegt die Einigkeit, mal flammen Kontroversen um einzelne Formulierungen auf. „Bei den Diskussionen bleibt oft kein Stein auf dem anderen“, räumt Sebastian Lohsse ein. Für heute hat Martin Avenarius einen Textabschnitt vorab übersetzt. Thomas Rüfner liest ihn vor. Nach jedem Satz folgen eine Diskussion und ein vergleichender Blick in die Literatur, in Wörterbücher, gelegentlich auch in ältere, teils anderssprachige Übersetzungen.
Eine Neuübersetzung des Werks ist nötig, weil die Lateinkenntnisse zurückgehen. Immer weniger Menschen verstehen daher das Original. „Ohne eine moderne deutsche Übersetzung geht das Wissen verloren“, ist Sebastian Lohsse überzeugt. Die deutschsprachige Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert sei überholt. „Außerdem war diese an vielen Stellen nicht sehr sorgfältig und daher nicht verlässlich.“
Den Herausgebern geht es einerseits darum, die Bedeutung des Originals möglichst genau wiederzugeben. Andererseits soll das Werk für heutige Leser verständlich sein. Das bietet interpretatorischen Spielraum. Sprachliche Eleganz spielt ebenfalls eine Rolle, außerdem linguistische Forschungen und das Wissen über die spätantike Lebenswelt. Den „Sklaven, der die Kinder zur Schule führt“ übersetzen die Herausgeber daher nicht wörtlich, sondern überlegen, ob nicht schlicht ein „Mentor“ oder „Erzieher“ gemeint sein könnte. Alle Formulierungen, die infrage kommen, werden auf die Goldwaage gelegt. „Für den ‚Erzieher‘ gab es mit ,educator‘ ein eigenes Wort“, gibt der Rechtswissenschaftler aus Münster zu bedenken. Der Kompromiss lautet schließlich „Hauslehrer für die Kinder“.
„Für unsere Arbeit muss man den Text genau verstanden haben“, erläutert Sebastian Lohsse. Erfahrungsgemäß dauert es durchschnittlich fünf Jahre, bis ein neuer Band der Edition vorliegt. Beim jüngsten Band zog es sich allerdings sehr lange hin – satte zwölf Jahre. Mit dem Erbrecht hatten die Experten eine komplexe Materie zu bearbeiten, hinzu kamen die Erschwernisse während der Coronapandemie. Den nächsten Band erwartet Sebastian Lohsse in vier Jahren. Den fachlichen Austausch dafür bezeichnet er als „maximal intensiv“. Das scheint die Beteiligten aber nicht zu stören. Im Gegenteil. „Die Diskussion findet auf einem Niveau statt, das sonst nicht zu erreichen ist. Wann sonst nimmt man alles von A bis Z zur Kenntnis und kennt jeden einzelnen Buchstaben, jedes Satzzeichen?“
Autorinnen: Brigitte Heeke und Anke Poppen
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 12. Juni 2025.