
Schneller in Gesellschaft
Für viele Autofahrerinnen und Autofahrer dürfte dieses Szenario extrem verlockend klingen: eine leere A 1, trockene Witterung, kein Tempolimit – endlich gibt es die Gelegenheit, Vollgas zu geben. Jedoch verleitet eine freie Autobahn ohne Geschwindigkeitsbegrenzung einer aktuellen Studie zufolge nicht unbedingt dazu, schneller zu fahren. Auf Basis von minütlich und automatisch erfassten Zähldaten untersuchten Nachwuchsforscher der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster die Reaktionen von Autofahrern auf Autobahnabschnitten mit und ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. „In der verkehrswissenschaftlichen Forschung geht man davon aus, dass Autofahrer am schnellsten unterwegs sind, wenn sie allein auf der Straße fahren. Nimmt die Anzahl der Fahrzeuge zu, sinkt die Durchschnittsgeschwindigkeit“, erläutert Sebastian Specht vom Institut für Verkehrswissenschaft den sogenannten Staueffekt. Diesen Zusammenhang sehe man aber in den Daten für die Autobahn nicht, zumindest wenn relativ wenige Fahrzeuge unterwegs sind. „Vielmehr steigt im Vergleich zum Alleinefahren bis zu einer Zahl von acht gemessenen Fahrzeugen pro Minute die Durchschnittsgeschwindigkeit an.“
Für ihre Untersuchung werteten Till Kösters, Sebastian Specht und Jan Wessel Daten aus den Jahren 2017 bis 2023 aus Nordrhein-Westfalen aus. Rund 30 Prozent aller Autobahnkilometer durchkreuzen Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland. Auf etwa zwei Dritteln davon gibt es keine dauerhaften Geschwindigkeitsbegrenzungen. Neben dem Verkehrsaufkommen flossen auch Einflüsse wie das Wetter oder Baustellen in die empirische Analyse ein.
Welche Gründe gibt es dafür, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit mit zunehmendem Verkehrsaufkommen zuerst ansteigt und somit höher ist, als wenn Autofahrer „freie Bahn“ haben? Jetzt kommt die Psychologie ins Spiel. Viele Autofahrer beeinflussen sich demnach gegenseitig in ihrem Verhalten. Insbesondere die Wahrnehmung der Geschwindigkeit spiele eine wichtige Rolle, wobei die eigene Geschwindigkeit regelmäßig unterschätzt, und die Geschwindigkeit der anderen überschätzt werde. Dies führe häufig dazu, stärker aufs Gaspedal zu drücken, um sozialen Normen gerecht zu werden, und zum Beispiel nicht als langsamer oder schlechter Fahrer angesehen zu werden. Gerade auf Autobahnabschnitten ohne Tempolimit sei der soziale Druck hoch. Eine weitere Erklärung ist das Überholen von einzelnen Fahrern, um zum Beispiel ein Gefühl der Überlegenheit zu erlangen, oder um niemanden vor sich zu haben. Ist die Autobahn dagegen wenig befahren oder sogar leer, entfällt dieser „Konkurrenzdruck“.
Erwartungsgemäß hat auch der Kraftstoffpreis einen direkten Effekt auf das Fahrverhalten. In einer früheren Studie zeigen Till Kösters, Sebastian Specht, Jan Wessel und Thomas Hagedorn anhand eines ähnlichen Datensatzes, dass Autofahrer auf steigende Kraftstoffpreise mit verringerten Geschwindigkeiten reagieren. Je teurer Diesel oder Super, desto mehr achten sie darauf, langsamer und somit sparsamer unterwegs zu sein. „Diesen Effekt konnten wir besonders deutlich während der Energiekrise 2022 sehen“, unterstreicht Sebastian Specht.
Die aktuelle Lage, dass es auf der Autobahn kein allgemeines Tempolimit gibt, erlaube interessante Beobachtungen. Dadurch könne das Fahrverhalten unter nahezu unverfälschten Bedingungen untersucht werden. Das Forscherteam aus Münster bemerkt mit einem Augenzwinkern: „Solche Daten wären mit einem allgemeinen Tempolimit nicht mehr verfügbar. In der politischen und ökonomischen Debatte sollte das aber kaum das entscheidende Argument sein.“
Autorin: Brigitte Heeke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 2. April 2025.