„Ein großes Gehirn ist nicht mit einer hohen Intelligenz gleichzusetzen“
Wer erwartet, dass am Institut für Sportwissenschaft zu Training, Unterricht, Bewegung oder Psychologie geforscht wird, liegt richtig. Wer jedoch annimmt, dass ein Evolutionswissenschaftler dort fehl am Platze wäre, der täuscht sich. Dr. Marc de Lussanet de la Sablonière forscht in der Bewegungswissenschaft unter anderem zur Evolution des Gehirns und des Körpers. Im Interview mit Hanna Dieckmann spricht er über die Vor- und Nachteile von schrumpeligen und glatten Gehirnen, warum der menschliche Körper sowohl symmetrisch als auch asymmetrisch aufgebaut ist und warum derartige Erkenntnisse für die Bewegungswissenschaft interessant sind.
Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Evolution und Entwicklung des Gehirns. Sie selbst warfen die Frage auf, warum das menschliche Hirn so schrumpelig ist wie eine Walnuss. Gibt es darauf eine einfache Antwort?
Nein. Ausschließlich Säugetiere haben ein gefaltetes Großhirn und von ihnen nur die größeren. Je größer, desto stärker ist es gefaltet. Sehr große Hirne wie das des Menschen haben viel stärker spezialisierte Areale als kleine Gehirne wie bei der Maus, und die Rechenkapazität steckt in diesen lokalen Netzwerken der grauen Substanz. Daher ist ein großes, stark gefaltetes Gehirn einerseits von Vorteil; das geht jedoch mit einer relativ schlechten ‚inneren Vernetzung‘ einher. Weiter voneinander entfernte Gebiete, zum Beispiel die linke und rechte Hirnhälfte, sind beim Mensch verhältnismäßig viel schlechter verbunden als bei der Maus.
Dass sich der Mensch aufgrund der Beschaffenheit seines Gehirns überlegen fühlt, ist also mit Vorsicht zu betrachten?
Den Menschen als ,Krone der Schöpfung‘ zu verstehen, ist ein veraltetes und darüber hinaus widerlegtes Konstrukt, das meines Wissens theologisch-ideologisch geprägt war. Es ist obendrein eine gefährliche Sichtweise, denn aus ihr wurden Rassenwahn und andere Ideologien abgeleitet, etwa die Idee, dass der Mensch nach Belieben über die Schöpfung verfügen kann.
Eine Studie besagt, dass manche Säugetiere schon vor über 200 Millionen Jahren Furchen in der Gehirnoberfläche hatten. Einige Spezies verloren diese im Laufe der Evolution wieder. Warum ist ein ,faltiges‘ Gehirn für Menschen evolutionär von Vorteil und für andere Tiere nicht?
Interessant! Demnach wäre das gefaltete Gehirn an sich also kein Vorteil. Es ist sogar eher ein Nachteil, da es den effizienten Informationsfluss einschränkt. Rabenvögel, die als besonders intelligent gelten, haben beispielsweise ein kleines, glattes Großhirn. Generell ist das Großhirn von Vögeln glatt, und dadurch sind die Verbindungswege zwischen den Hirnregionen wesentlich kürzer. Ich vermute, dass das ein großer Vorteil ist und damit ein wichtiger Faktor für die hervorragenden kognitiven Leistungen vieler Vogelarten ist. Es gibt einen lockeren Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Körpergröße, wobei Prädatoren, also Raubtiere, typischerweise ein größeres Gehirn haben als gleich große Pflanzenfresser.
Die Größe des Gehirns ist also doch wichtig?
Sie ist wichtig für die Denkleistung, aber eben nur ein Faktor unter mehreren. Ein großes Gehirn ist im Umkehrschluss nicht mit hoher Intelligenz gleichzusetzen. Von Walen wird vermutet, dass das Gehirn groß ist, damit es seine eigene Wärme regulieren kann. Ein wesentlicher Anteil der Zellen sind also keine Neuronen, sondern Wärme produzierende Zellen, sogenannte Astrocyten.
Sie forschen außerdem zur sogenannten Kontralateralität, also zur spiegelverkehrten Repräsentation der Körperseiten im Vorderhirn ...
Eine Rotation entlang der Körperachse findet sich in der gesamten Verwandtschaftsgruppe der Wirbeltiere und muss daher sehr früh entstanden sein, noch vor der ,kambrischen Explosion‘ vor 500 Millionen Jahren, als die heute bekannten Tiergruppen entstanden. Das macht die Frage nach der Evolution schwierig und spekulativ, denn aus dieser Zeit wissen wir so gut wie nichts. Ich würde spekulieren, dass ein früher Vorfahre schwimmende Larven hatte, die sich am Boden festsetzten und sich von dem ernährten, was von oben herunterfiel. Um das Fressen zu erleichtern, drehten sie sich um 90 Grad auf die linke Seite, was zu einem evolutionären Vorteil einer asymmetrischen Entwicklung und letztendlich einer axialen Rotation führte.
Es gibt also keinen Nachweis, warum es zur Kontralateralität gekommen ist?
Genau. Ich konnte in Übereinstimmung mit der axialen Verdrehungstheorie aber zeigen, dass die Kontralateralität ein Nebenprodukt der gegenläufigen Drehung entlang der Körperachse ist, ohne eigenen evolutionären Vorteil. Das bedeutet, dass die Kontralateralität bis heute bestehen geblieben ist, weil der Entwicklungsprozess von Wirbeltier-Embryonen derart kompliziert und fein abgestimmt ist. Es gibt Entwicklungsstörungen, die wahrscheinlich auf Fehler in der axialen Drehung zurückzuführen sind. Diese bewirken stets schwere Behinderungen, zum Beispiel massive Fehlbildungen des Herzens oder gar lebensunfähige Embryonen.
Und welche Vorteile bringt dieses Phänomen mit sich?
Die Drehung könnte es dem Tier beispielsweise ermöglicht haben, sich wie eine Flunder auf dem Meeresboden zu verstecken. Jedoch wäre durch eine bloße Drehung die bilateral-symmetrische Anordnung der Organe verloren gegangen, bei der die Augen links und rechts am Kopf liegen und die Flossen rechts und links an beiden Seiten des Körpers entspringen. Um diese symmetrische Anordnung wiederherzustellen, verschoben sich im Laufe der Evolution einzelne Körperteile, zum Teil gegen den Uhrzeigersinn, zum Teil im Uhrzeigersinn. Augen, Nasenlöcher und das Vorderhirn verschoben sich demnach in Richtung der ursprünglichen Drehung, weiter schwanzwärts gelegene Regionen des Gehirns und des Körpers genau entgegensetzt. So entstanden zum Teil Kreuzungen der Nervenbahnen zwischen den Körperregionen, beispielsweise entstand das optische Chiasma – die Kreuzung der Sehnerven. Stellen Sie es sich wie beim Auswringen eines nassen Waschlappens vor: Man dreht die beiden Enden in entgegengesetzte Richtungen.
Warum sind Erkenntnisse zu Kontralateralität, Asymmetrien und Evolution interessant für Ihre Arbeit in der Bewegungswissenschaft?
Seit meinem Biologiestudium interessiere ich mich für die Evolution. Ein falsches, oberflächliches Verständnis der Evolutionstheorie hat in der Vergangenheit in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu vielen falschen Auffassungen geführt. Was sich aber sicher sagen lässt: Der symmetrische Bau der Wirbelsäule mit ihren Muskeln und Faszien ist offensichtlich wichtig für einen gesunden und stabilen Rücken. Es gibt Hinweise darauf, dass ein schiefer Rücken, also Skoliose, entsteht, wenn die Brust- und Lendenwirbel asymmetrisch wachsen. Im Durchschnitt sind die Wirbelkörper asymmetrisch, so wie es die angesprochene Theorie der axialen Torsion besagt. Bei einigen Menschen ist diese Asymmetrie aber zu stark ausgeprägt. Dies kann im Zusammenhang mit starkem Wachstum leicht zu einer mechanischen Instabilität führen.
Wir Menschen sind also sowohl asymmetrisch als auch symmetrisch – das klingt verwirrend ...
So merkwürdig es klingt, die Verdrehung um 180 Grad während der embryonalen Entwicklung bewirkt, dass der Körper wieder symmetrisch ist. Wenn die Drehung nicht komplettiert wird, also weniger als 180 Grad beträgt, führt das zu Asymmetrien. Das Verwirrende erscheint mir für Laien, dass der ausgewachsene Körper äußerlich symmetrisch erscheint, obwohl der vordere Kopf mit Großhirn und Gesicht im Normalfall um 180 Grad gedreht ist.
Wo treffen sich die Disziplinen Biologie und Sportwissenschaft speziell in Ihrer Forschung?
Während meines Studiums habe ich mich zunächst mit der Biomechanik und Bewegungswissenschaft von Seepferdchen und verwandten Fischen beschäftigt. Auch sie können auf ihre Art sehr sportlich sein. Für mich sind Menschen eine weitere Spezies, an der man sehr gut forschen kann, weil sie so lern- und kommunikationsfähig sind. Sie zeigen viele komplexe und hochinteressante Verhaltensmuster. Natürlich finde ich Menschen auch deshalb interessant, weil ich selbst einer bin.
Literatur zum Thema:
Marc H. E. de Lussanet. Opposite asymmetries of face and trunk and of kissing and hugging, as predicted by the axial twist hypothesis. PeerJ, 7:e7096, 2019. doi: 10.7717/peerj.7096.
Marc H. E. de Lussanet. Comment on “Cortical folding scales universally with surface area and thickness, not number of neurons”. Science, 351(6275):825, 2016. doi: 10.1126/science.aad0127.