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Münster (upm/anb).
In der Apotheke des Universitätsklinikums Münster ist der Vorrat an Schmerzmitteln groß. Diese werden von einem Roboter sortiert und verteilt.<address>© Uni MS - Peter Leßmann</address>
In der Apotheke des Universitätsklinikums Münster ist der Vorrat an Schmerzmitteln groß. Diese werden von einem Roboter sortiert und verteilt.
© Uni MS - Peter Leßmann

Fluch und Segen mit Suchtpotenzial

Die Pharmazie hat viele Schmerzmittel hervorgebracht – ohne Risiko ist ihr Einsatz jedoch nicht

Hier zieht es, da sticht es – viele Menschen erleben Schmerzen als ein mitunter diffuses Gefühl. Hinzu kommt: Das Schmerzempfinden ist sehr individuell. Für die Internationale Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes ist die Sache klarer. Demnach handelt es sich bei Schmerzen um „ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht oder einer solchen ähnelt“. Besonders häufig schmerzt den Menschen der Rücken und der Kopf. Was kann man dagegen tun? Die wohl naheliegendste Wahl sind Schmerzmittel, beispielsweise Paracetamol, Ibuprofen oder Aspirin. 2016 betrug der Umsatz mit Schmerzmitteln in Deutschland 480 Millionen Euro. 2023 stieg er auf 680 Millionen Euro und für 2029 wird ein Umsatz von 930 Millionen Euro prognostiziert. Die Tendenz ist also steigend, nicht zuletzt aufgrund einer älter werdenden Bevölkerung, die vermehrt unter chronischen Schmerzen leidet.

Bevor man allerdings zur Schmerztablette greift, kann es sinnvoll sein, über den Sinn von Schmerz nachzudenken. Denn Schmerzen erfüllen eine wichtige Aufgabe: Sie können auf Verletzungen oder Entzündungen hinweisen, alarmieren den Körper also, dass etwas nicht stimmt und Ruhe oder eine Behandlung nötig sein könnten. „Allen klassischen Schmerzmitteln, den sogenannten Analgetika, ist gemein, dass sie die Ursache des Schmerzes nicht beseitigen, sondern das Symptom Schmerz beeinflussen“, erklärt Prof. Dr. Marcel Bermúdez, Wissenschaftler am Institut für Pharmazeutische und Medizinische Chemie der Universität Münster.

Bei Schmerzmitteln sind drei wesentliche Wirkstoffklassen zu unterscheiden, die auf unterschiedliche Weise in die Entstehung, Weiterleitung oder Wahrnehmung von Schmerz eingreifen: erstens die Opioid-Analgetika, zu denen Morphin, Codein, Fentanyl und Oxycodon gehören; zweitens die nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR) wie Paracetamol, Ibuprofen oder Diclofenac; drittens die Lokalanästhetika, die etwa bei einer Zahnarztbehandlung zum Einsatz kommen.

Die NSAR sind die Medikamentenklasse der Schmerzmittel, die deutschlandweit am häufigsten eingenommen werden. 2023 haben laut einer Allensbach-Studie 35,69 Millionen Menschen in den vergangenen drei Monaten eines der rezeptfrei erhältlichen Präparate eingenommen – allen voran Ibuprofen und Paracetamol. Dr. Isabell Waltering, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Fachapothekerin für Arzneimittelinformation mit dem Schwerpunkt Arzneimitteltherapie- und Patientensicherheit an der Universität Münster, sieht bei den genannten und weiteren Substanzen eine Reihe von Nebenwirkungen, die das Herzkreislaufsystem, Organe wie die Niere und Leber, den Magen-Darm-Trakt sowie Blutungsrisiken umfassen. „Das größte Problem ist eine unreflektierte und sorglose Anwendung, denn diese Substanzen können alle rezeptfrei erworben werden“, betont die Wissenschaftlerin. Grundsätzlich bestehe bei der Einnahme von Schmerzmitteln die Gefahr einer Über- und auch Unterversorgung „mit Nebenwirkungen oder der Gefahr der Chronifizierung des Schmerzes“. Isabell Waltering unterstreicht aber auch die Wichtigkeit von Schmerzmitteln. „Sie sind ein Segen für Patienten, wenn sie mit der richtigen Aufklärung und der richtigen Anwendung eingenommen werden. Ein unkritisches Schlucken dagegen ist in vielerlei Hinsicht gefährlich.“

Insbesondere in der Migränetherapie sind viele neuartige Wirkprinzipien hinzugekommen.
Prof. Dr. Marcel Bermúdez

Wie riskant dieser Einsatz sein kann, zeigt ein Blick in die USA. Dort herrscht seit Ende der 1990er-Jahre die sogenannte Opioid-Krise, in deren Zuge jährlich mehrere Zehntausend Menschen sterben. Auslöser der Krise war die Tatsache, dass viele Ärzte übermäßig häufig starke, opioidhaltige Schmerzmittel verschrieben. Diese Schmerzmittel weisen ein hohes Suchtpotenzial auf und können bei Überdosierung zu einem Atemstillstand führen. Zwar würden auch in Deutschland inzwischen mehr Opioide verschrieben, erklärt Marcel Bermúdez, doch hält er eine Entwicklung wie in den USA für unwahrscheinlich. „Sowohl bei Patienten als auch bei Ärzten gibt es eine Zurückhaltung und sogar Furcht vor Opioid-Analgetika.“ Darüber hinaus weist er auf den Einsatz von Metamizol (auch als Novaminsulfon oder unter dem Handelsnamen Novalgin bekannt) in Deutschland hin: Zwar nicht frei von potenziell schweren Nebenwirkungen, wird der Arzneistoff zur Behandlung von mittelstarken bis starken Schmerzen eingesetzt und ist damit eine etablierte Alternative zu den Opioiden.

Eines der ältesten Schmerzmittel ist die Acetylsalicylsäure, die die Chemiker Felix Hoffmann und Arthur Eichengrün im Auftrag von Bayer im Jahr 1897 erstmals synthetisierten. Seit 1977 steht der Wirkstoff auf der „Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation“. Dieser und weitere Erfolge der Pharmazie sorgen in der Wissenschaft aber nicht für Genügsamkeit, vielmehr geht die Forschung an Schmerzmitteln weiter. „Wir benötigen nicht nur neue Wirkstoffklassen, die gezielt verschiedene Schmerzarten adressieren, sondern auch dazu passende Arzneiformen“, führt Marcel Bermúdez aus. Zu den derzeitigen Forschungsschwerpunkten gehört es, Opioid-Arzneien sicherer und besser zu machen. Binden Opioide nicht an allen vier verschiedenen Opioid-Rezeptoren, sondern sind selektiver, ist es möglich, eine bessere therapeutische Wirkung zu erzielen und gleichzeitig etwa das Risiko eines Atemstillstands zu reduzieren.

Aber nicht nur die Erforschung von neuen Opioid-Analgetika geht weiter. „Besonders bei den spezifischen Analgetika, also solchen, die bei bestimmten Schmerzarten oder Erkrankungen zum Einsatz kommen, hat sich in den letzten Jahren viel getan. Insbesondere in der Migränetherapie sind viele neuartige Wirkprinzipien hinzugekommen“, betont Marcel Bermúdez. Schmerzen würden auch in Zukunft existieren, was angesichts ihrer physiologischen Funktion auch kein Problem sei. „Wir werden aber neue, bessere Wege finden, einen pathologischen Schmerz besser behandeln zu können – mit dem Ziel, die Lebensqualität zu steigern.“

Autor: André Bednarz

 

Aktionstag gegen den Schmerz

Jährlich am ersten Dienstag im Juni richtet die Deutsche Schmerzgesellschaft den „Aktionstag gegen den Schmerz“ aus. Am 4. Juni 2024 geben bundesweit therapeutische Einrichtungen unter dem Motto „Bewusstsein schaffen“ Einblicke in die verschiedenen Methoden der Schmerzdiagnose und -behandlung. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800 /18 18 120 stehen an diesem Tag zwischen 9 und 18 Uhr Schmerzexperten aus ganz Deutschland für Fragen zur Verfügung.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 8. Mai 2024.

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