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Münster (upm/jh).
Der Besuch in der Bibliothek im Haus der Niederlande gehört für Jessica Winger zum Unialltag.<address>© Uni MS - Julia Harth</address>
Der Besuch in der Bibliothek im Haus der Niederlande gehört für Jessica Winger zum Unialltag.
© Uni MS - Julia Harth

Ein langer Weg zum Ziel

Studium ohne Abitur: Jessica Winger hat mit Mitte 40 den Neustart gewagt

Mit ihrem Studium an der Universität Münster hat sich Jessica Winger einen Traum erfüllt. Sie ist 47 Jahre alt und gerade ins zweite Semester des Bachelorstudiengangs Niederlande-Deutschland-Studien gestartet. „Hätte mir in der Schule jemand gesagt, dass ich studieren würde, hätte ich sie oder ihn wohl ausgelacht“, sagt sie. Das Besondere: Die Düsseldorferin gehört zu einer kleinen Gruppe von knapp 0,5 Prozent aller Studierenden, die an der Universität Münster ohne Abitur studiert. Möglich macht es ihre berufliche Qualifikation. Deutschlandweit ist seit Jahren ein Aufwärtstrend zu beobachten: Studierten vor 25 Jahren nur rund 8.500 Personen ohne allgemeine Hochschul- und Fachhochschulreife, sind es heute achtmal so viele.

Dass Jessica Winger deutlich älter ist als die meisten ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen, stört sie wenig. „Die Menschen an der Universität sind sehr offen und hilfsbereit“, betont sie. „Ich komme gut mit den anderen Studierenden aus.“ Schließlich bringe sie einiges mehr an Berufs- und Lebenserfahrung mit. In Essen aufgewachsen besuchte sie zunächst ein Gymnasium, dann eine Realschule und ein Berufskolleg. Anschließend machte sie eine Ausbildung zur Bürokauffrau und eine Weiterbildung zur Verwaltungsfachangestellten, blieb insgesamt 17 Jahre im öffentlichen Dienst. „Dann war die Zeit reif für etwas Neues“, erinnert sie sich. Sie absolvierte eine sogenannte Externenprüfung zur Kauffrau für Büromanagement, arbeitete erst bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, dann in der Verwaltung eines großen Museums. Glücklich wurde sie damit nicht. „Ich bin ein Typ, der immer etwas lernen muss“, sagt sie. Ihre Liebe zu den Niederlanden entdeckte sie bei mehreren Urlauben. „Ich konnte nicht mal ein Brötchen in der Landessprache kaufen. Das hat mich gestört.“ Spontan belegte sie einen Niederländisch-Kurs an der Volkshochschule und dachte erstmals darüber nach zu studieren.

Wer sich ohne Abitur an einer deutschen Hochschule einschreiben möchte, benötigt in der Regel eine abgeschlossene Ausbildung und mehrere Jahre Berufserfahrung. Im Bewerbungsverfahren wird zwischen Meistern und vergleichbar Qualifizierten, fachtreuen und nicht fachtreuen Bewerbern unterschieden. Für zulassungsbeschränkte Studiengänge muss häufig eine Zugangsprüfung absolviert werden.

In zulassungsfreien Studiengängen können sich die Interessierten für ein zweisemestriges Probestudium immatrikulieren. „Bis zum Ende des zweiten Semesters müssen die Kandidatinnen und Kandidaten mindestens 20 ECTS-Punkte pro Semester nachweisen. Können sie diesen Nachweis nicht erbringen, gilt das Probestudium als nicht bestanden und die Kandidaten können das Studium nicht fortsetzen“, erklärt Marion Middelmann vom Studierendensekretariat der Universität Münster.

Auch Jessica Winger befindet sich derzeit im Probestudium – der Bachelorstudiengang Niederlande-Deutschland-Studien ist zulassungsfrei. Sie ist optimistisch, dass sie die erforderlichen Punkte bekommt. Dafür nimmt sie einiges in Kauf: Dreimal pro Woche pendelt sie mit dem Zug von ihrem Wohnort Düsseldorf nach Münster. Neben dem Studium arbeitet sie im Servicepoint des AStA am Campus Essen der Universität Duisburg-Essen, wo sie vor dem Studienstart in Münster bereits zwei Semester Niederlandistik und Germanistik studierte. „Mein Partner fängt finanziell einiges auf, aber ohne Nebenjob geht es nicht, auch wenn ich dadurch wenig vom studentischen Leben mitkriege“, sagt sie. Vom Unialltag in Münster ist sie begeistert: „Hier werden die Niederlande gelebt.“ Das multidisziplinär ausgerichtete Studium widmet sich der niederländischen Sprache ebenso wie der interkulturellen Kommunikation, Politik, (Kunst-)Geschichte und Wirtschaft des Landes. Grenzüberschreitende Praktika und ein Auslandssemester sind fester Bestandteil. Zudem stärken Wahlpartys, Exkursionen oder die Feierlichkeiten zum „Koningsdag“ den Zusammenhalt am Zentrum für Niederlande-Studien.

Gibt es Studiengänge, die bei Studierenden ohne Abitur besonders hoch im Kurs stehen? „Beliebt sind die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, hier besonders die Fächer Erziehungswissenschaft und Psychologie“, berichtet Dr. Sven Niehues aus der Abteilung Strategische Planung und Akademisches Controlling des Dezernats 5.3. Damit spiegelt sich ein deutschlandweiter Trend auch an der Universität Münster wider: Laut einer Statistik des Centrums für Hochschulentwicklung CHE studieren mehr als 50 Prozent der beruflich Qualifizierten diese Fächer. In Münster sind zudem das Grundschullehramt und die katholische Religionslehre beliebt, aber auch Mathematik, Physik und Pharmazie.

Mehr als die Hälfte der Studienanfänger ohne Abitur sind in Deutschland zwischen 21 und 30 Jahren alt, knapp 28 Prozent zwischen 31 und 40 Jahren. Auch in dieser Hinsicht ist Jessica Winger eine Ausnahme. Wohin sie ihr Weg nach dem Bachelor führt? „Mein Traum ist es, auch den Master zu machen und anschließend vielleicht bei der Europäischen Union zu arbeiten“, blickt sie in die Zukunft. Dass sie mit Mitte 40 den Neustart gewagt hat, habe sie keine Sekunde bereut. „Das Studium hält jung. Früher hätte ich nie gedacht, dass ich irgendwann freiwillig Parlamentssitzungen verfolgen würde – einfach so, weil es mich interessiert und weiterbringt.“

Autorin: Julia Harth

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 8. Mai 2024.

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