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Abstrakter Zusammenhang zwischen Genetik und Technik: Die Natur kann bei der Entwicklung von Algorithmen als Vorbild dienen.<address>© Alex - stock.adobe.com</address>
Abstrakter Zusammenhang zwischen Genetik und Technik: Die Natur kann bei der Entwicklung von Algorithmen als Vorbild dienen.
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„Wir lernen von Vorbildern aus der Natur“

Wirtschaftsinformatiker Christian Grimme erklärt das Prinzip von evolutionären Algorithmen

Die Natur dient uns in vielerlei Hinsicht als Vorbild für Prozesse und Funktionen, die wir in unserem Alltag nutzen. Prof. Dr. Christian Grimme vom Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Münster arbeitet seit vielen Jahren an und mit sogenannten evolutionären Algorithmen, die – wie der Name schon verrät – sich an den zugrunde liegenden Gedanken der biologischen Evolutionstheorie orientieren. Kathrin Kottke sprach mit ihm über Funktion und Nutzen dieses informatischen Verfahrens.

 

Die meisten Menschen verorten die Evolution thematisch in der Biologie. Sie sind Wirtschaftsinformatiker und arbeiten auch mit dem Konzept der Evolution. Wie passt das zusammen?

Tatsächlich sind das auf den ersten Blick zwei sehr unterschiedliche Disziplinen, aber beide Wissenschaften, Biologie und Informatik, interessieren sich für Funktionsprinzipien von Systemen. Und die Evolution ist ein spannendes, offenes und dynamisches System. Ich arbeite also im weitesten Sinne mit naturinspirierten Konzepten, Konstruktionen und Verfahren – auch Bionik genannt. Ein bekanntes Beispiel bionischer Technologien sind Anti-Schmutz-Farben, die sich den Lotuseffekt zu eigen machen. Auch die evolutionären Algorithmen zählen zur Kategorie der naturinspirierten Konzepte – nur dass in diesen Fällen die Natur bei der Entwicklung von Algorithmen als Vorbild dient.

Um was geht es dabei?

Es handelt sich um ein Optimierungsverfahren, das auf den Gedanken der modernen Evolutionstheorie nach Charles Darwin basiert. Allerdings ist der Evolutionsbegriff in diesem Zusammenhang eher als Metapher zu verstehen. Die Anpassung von Tieren oder Pflanzen an ihre Umgebung funktioniert durch evolutionäre Entwicklung sehr gut und wird durch Selektion und Mutation angetrieben. Diese Beobachtung machen wir uns in der Wissenschaft und der Industrie zu eigen und lernen von Vorbildern aus der Natur. Konkret sind evolutionäre Algorithmen Computeranwendungen, die biologische Evolutionsprozesse mit vereinfachten Modellvorstellungen nachahmen, um komplexe Probleme zielgerichtet zu lösen.

Prof. Dr. Christian Grimme<address>© privat</address>
Prof. Dr. Christian Grimme
© privat
Wie genau ist das zu verstehen?

Dazu müssen wir uns das Prinzip der Evolutionstheorie ins Gedächtnis rufen. Vereinfacht dargestellt besagt es, dass Lebewesen stets einer Veränderung unterliegen und sich anpassen müssen, um als Spezies zu überleben. In einer Spezies haben diejenigen Individuen Vorteile bei der Vermehrung, die am besten angepasst sind. Diese Anpassungen entstehen in der Natur zufällig, durch stetige Mutation des Genoms. Das am besten angepasste Genom überlebt durch häufigere Fortpflanzung. Die Anpassung an äußere Einflüsse führt so auf lange Sicht zum Entstehen neuer und besser angepasster Arten. Übertragen auf die Optimierung könnte man, wieder vereinfacht, sagen, dass dieser Anpassungs-Zyklus so lange läuft, bis irgendwann eine gute, wenn nicht optimale Lösung für ein Problem gefunden wurde. Und das beschreibt im Prinzip die allgemeine Schleife, die auch bei evolutionären Algorithmen genutzt wird: wiederholte Mischung und zufällige Veränderung einer Population von Lösungen, und Auswahl der besten Lösungen für ein Problem.

Können Sie das anhand von Anwendungsbeispielen deutlich machen?

Die Einsatzbereiche von evolutionären Algorithmen sind nahezu unbegrenzt. Besonders interessant sind sie für schwere Probleme, bei denen wir nicht wissen, wie wir zu einer guten Lösung kommen. Etwa die Optimierung von Transportwegen für Logistikunternehmen oder ein Maschinenbelegungsplan in einer großen Fabrik. Eine der ersten industriellen Anwendungen stammt vom Erfinder der Evolutionsstrategien, dem Luft- und Raumfahrttechniker Hans-Paul Schwefel. Er hat versucht, die optimale innere Form einer Zweiphasenstrahldüse mit maximalem Schub zu konstruieren. Ausgangspunkt war eine Düsenform, die trichterförmig verjüngt und dann wieder trichterförmig auseinanderläuft. Er hat dann evolutionäre Algorithmen angewendet und dazu die Düse quasi in kleine Scheiben zerschnitten. Der evolutionäre Algorithmus hat die Scheiben durch Änderung der Reihenfolge neu zusammengesetzt – immer mit Mutation und Auswahl der besten Lösungen. Das führte schließlich zu einer neuen und überraschenden Form, die erheblich besser als die Ausgangsform war.

Und welche Herausforderungen gehen Sie mit evolutionären Algorithmen an?

Ich beschäftige mich in meiner Arbeit mit der sogenannten Mehrzieloptimierung. Das heißt, es gibt nicht nur ein Ziel, auf das ich hin optimiere, sondern mehrere. Und diese Ziele widersprechen sich oft. Zum Beispiel möchte jemand ein Auto kaufen, das besonders sicher ist und gleichzeitig einen geringen Verbrauch hat. Beides gleichzeitig zu erreichen ist unmöglich, denn ein sicheres Auto ist oft groß und schwer und hat dementsprechend einen größeren Verbrauch als kleine, leichte Autos. Diese Ziele müssen in Übereinstimmung gebracht werden beziehungsweise es müssen optimale Kompromisse erzeugt werden.

Und wie genau helfen die Algorithmen dabei?

Das Finden der Kompromisse ist ein schwieriges Problem. Oft reicht die Mathematik zur Formulierung der Zusammenhänge und Wechselwirkungen der Ziele nicht aus. Deshalb greifen wir auf evolutionäre Algorithmen zurück. Es hat sich gezeigt, dass speziell angepasste Methoden für diese Art von Problemen zu guten Lösungen führen. Die Algorithmen errechnen etwa optimale Kompromisse in der industriellen Anwendung oder Logistik bis hin zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen.

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 8. Mai 2024.

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