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Münster (upm/anb).
Die Militärsoziologie untersucht unter anderem, wie und warum jemand Soldat wird.<address>© Thaut Images - stock.adobe.com</address>
Die Militärsoziologie untersucht unter anderem, wie und warum jemand Soldat wird.
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„Das Sicherheitsgefühl hat sich verändert“

Wie Militärsoziologin Nina Leonhard die Bundeswehr beurteilt

Die Bundeswehr ist Gegenstand vielzähliger Diskussionen. Unentwegt handelt die Öffentlichkeit ihr Verhältnis zu den eigenen Streitkräften aus, schon der Afghanistaneinsatz, verschiedene Skandale und nicht zuletzt der Ukrainekrieg samt eingeläuteter „Zeitenwende“ und ausgewiesenem „Sondervermögen“ geben Anlass, sich mit der Bundeswehr zu beschäftigen. Einen professionellen Blick auf das deutsche Militär hat Dr. Nina Leonhard, die im Interview mit André Bednarz über die Bundeswehr als Forschungsgegenstand und das soldatische Selbstverständnis spricht.

Anlässlich des Ukrainekriegs sprach Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 von einer „Zeitenwende“. Haben Sie den Eindruck, dass dieser Wechsel tatsächlich bei der Bundeswehr angekommen ist?

Zum einen haben sich die öffentliche Wahrnehmung der Bundeswehr und die Diskussion über sie geändert. Zum anderen steht der Bundeswehr aufgrund des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro deutlich mehr Geld zur Verfügung als zuvor. Dass dies politisch durchgesetzt wurde, zeigt, wie wichtig die Bundeswehr in ihrer Rolle als Landes- und Bündnisverteidigerin inzwischen wieder ist. Beides zusammen beweist, dass es zu einer Aufwertung und einer neuen Funktionszuschreibung der Bundeswehr gekommen ist.

Eine Zeitenwende hat möglicherweise auch eine andere Wahrnehmung der Bundeswehr in der Öffentlichkeit zur Folge. Wie bewerten Sie denn das aktuelle Verhältnis von Bundeswehr und Zivilgesellschaft?

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich das Sicherheitsgefühl der Menschen verändert, und dies hat auch Folgen für das Verhältnis der Bevölkerung zur Bundeswehr, etwa für die Bewertung der finanziellen Ausstattung der Streitkräfte. Das Vertrauen in die Bundeswehr ist seit vielen Jahren hoch. Eine differenziertere Sicht gibt es aber auf die Anwendung militärischer Gewalt als Mittel der Außen- und Sicherheitspolitik. Interessant ist darüber hinaus die Frage, wer heute Soldat werden möchte. Zwar gibt es viele Menschen in Deutschland, die die Bundeswehr gut und wichtig finden, doch verhältnismäßig wenige möchten tatsächlich Soldatin oder Soldat werden. Die Abschaffung der Wehrpflicht hat zudem dazu geführt, dass die direkten Berührungspunkte mit den Streitkräften abgenommen haben.

War somit die Abschaffung der Wehrpflicht, nachträglich betrachtet, ein Fehler?

Dr. Nina Leonhard ist Privatdozentin am Institut für Soziologie der Universität Münster sowie Projektbereichsleiterin im Forschungsbereich Militärsoziologie am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam.<address>© privat</address>
Dr. Nina Leonhard ist Privatdozentin am Institut für Soziologie der Universität Münster sowie Projektbereichsleiterin im Forschungsbereich Militärsoziologie am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam.
© privat
Wie Streitkräfte ihr Personal rekrutieren, hängt maßgeblich davon ab, für welche Aufgaben diese vorgesehen und eingesetzt werden. Die nach Ende des Kalten Krieges erfolgte Fokussierung auf internationale Militäreinsätze erforderte eine grundlegende Umstrukturierung der Bundeswehr, und die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 war eine logische Folge davon. Ob die gegenwärtigen oder zukünftigen Entwicklungen eine erneute Anpassung der Rekrutierungspolitik erforderlich machen, ist wieder eine andere Frage.

Sind Fragen wie diese tatsächlich Fragen, mit denen sich eine Militärsoziologin wie Sie ohnehin beschäftigt?

Auf jeden Fall. Die Militärsoziologie ist eine sogenannte spezielle Soziologie, wie es sie für andere Bereiche, etwa die Gesundheit oder Wirtschaft, auch gibt. Die Militärsoziologie nimmt die Streitkräfte und ihre Angehörigen in den Blick und untersucht deren sozialen Beziehungsgeflechte – sowohl nach innen als auch mit Blick auf die zivile Umwelt. Hierbei spielen Fragen von Organisationsstruktur und -kultur eine wichtige Rolle, aber auch wie und warum jemand Soldat wird und wie er oder sie an die Militärorganisation gebunden wird. Zusammenfassend fragt die Militärsoziologie danach, wie Streitkräfte und ihre Angehörigen im Kontext von Politik und Zivilgesellschaft funktionieren.

Warum widmen Sie sich speziell diesem Themenfeld?

Für mich ist das aus zwei Gründen spannend. Zum einen ist das Militär eine zentrale Institution staatlicher Politik und Repräsentant und Instrument des staatlichen Gewaltmonopols. Wenn man sich für den Staat, für staatliche Politik, aber auch für das Verhältnis der Bürger zum Staat interessiert, dann ist man beim Militär richtig. Das zeigt sich unter anderem an der Wehrpflicht, die lange Zeit eine der zentralen Pflichten war, die der Staat gegenüber seinen männlichen Bürgern erhoben hat – neben der Steuer- und später der Schulpflicht – und die andere bürgerliche Rechte, namentlich das Wahlrecht, begründeten. Zum anderen hat die Bundeswehr die Aufgabe, Sicherheit zu gewährleisten, im Ernstfall unter Anwendung von Gewalt. Wenn Sie so wollen, ist die Bundeswehr, wie jede Militärorganisation auch, also dazu da, Gewaltmanagement zu betreiben, und sie bildet ihre Soldatinnen und Soldaten entsprechend zu Gewaltexperten aus. Mich interessiert dabei vor allem, wie dieses Gewaltmanagement organisiert und legitimiert wird vor dem Hintergrund, dass Gewalt für uns ,normale‘ Bürger eigentlich verboten ist und normativ als etwas Schlechtes gilt.

Unterscheidet sich das soldatische Selbstverständnis von dem in anderen Ländern?

In einer Studie habe ich vor einigen Jahren untersucht, welchen Sinn Soldatinnen und Soldaten ihrem Beruf beimessen. Vier Dimensionen haben sich als wichtig herausgestellt: Erstens sind es Karriere- und Aufstiegschancen, zweitens der Auftrag, Dienst für Deutschland zu tun und Sicherheit zu gewährleisten, drittens der konkrete Tätigkeits- und Aufgabenbereich und schließlich der soziale Zusammenhalt – Stichwort Kameradschaft. Diese vier Dimensionen bestimmen in unterschiedlich starker Ausprägung das soldatische Selbstverständnis, und das gilt vermutlich nicht nur für deutsche Soldaten. Besonders für den deutschen Kontext ist in jedem Fall die Idee des Staatsbürgers in Uniform als Kern der sogenannten inneren Führung. Bei diesem Leitbild geht es darum, dass die Soldatinnen und Soldaten nicht nur militärische Profis sind und ihr militärisches Handwerk beherrschen, sondern dass sie dabei den politischen Rahmen des eigenen Tuns stets mitberücksichtigen und wertgebunden agieren.

Seit 2018 gibt es eine neue Veteranen-Definition in Deutschland. Demnach sind all jene Soldaten Veteranen, die in der Bundeswehr gedient haben, unabhängig von Auslandseinsätzen. Hat es Ihrer Meinung nach diese Neudefinierung gebraucht?

Zunächst einmal ist diese Definition das Resultat einer langen Debatte zwischen dem Verteidigungsministerium und verschiedenen Soldatenverbänden, sie ist ein Kompromiss. Soziologisch ist vor allem die Herausbildung dieses Bedürfnisses nach einem Veteranentitel interessant. Zur Zeit der alten Bundesrepublik (vor 1989/90), ja sogar vor dem Afghanistaneinsatz, ist niemand auf die Idee gekommen, sich Veteran nennen zu wollen. Die Neudefinition hat es also gebraucht in dem Sinne, dass sie ein neues Bedürfnis seitens der Soldatinnen und Soldaten nach Anerkennung ausdrückt. Aus ministerieller Sicht soll der Ehrentitel Veteran deutlich machen, dass sich die Politik um seine Soldaten und Soldatinnen kümmert – auch vor dem Hintergrund von posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Versehrungen durch die Auslandseinsätze. Dies zeigt, wie stark vor allem die Gewalterfahrungen in Afghanistan die Soldaten der Bundeswehr geprägt haben.

Welchen Umgang mit der Bundeswehr wünschen Sie sich?

Von der Gesellschaft, auch von Universitäten, wünsche ich mir, dass es eine ernsthafte und differenzierte Auseinandersetzung mit der Bundeswehr gibt. Ich glaube, dass der Ukrainekrieg dazu beiträgt, dass sich viele Menschen derzeit etwas genauer mit der Bundeswehr beschäftigen.
 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 8. November 2023.

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