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In der Bildungsforschung wird heiß diskutiert, was richtig, falsch, was zu viel oder zu wenig Digitalisierung ist.<address>© fotolia.com/Zerbor</address>
In der Bildungsforschung wird heiß diskutiert, was richtig, falsch, was zu viel oder zu wenig Digitalisierung ist.
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Die Digitalisierung löst nicht alle Probleme in der Bildung

Wie Experten aus Wissenschaft, Lehre und Hochschulpolitik den digitalen Wandel bewerten – eine mehrteilige Serie

Der digitale Wandel vollzieht sich in allen Bereichen der Gesellschaft und ist längst Alltag. Expertinnen und Experten schauen sehr genau hin: Denn einige Wissenschaftler warnen davor, Kinder, Jugendliche und Studierende zu früh oder ausschließlich digitale Medien nutzen zu lassen. Im Schulalter und darüber hinaus birgt die Digitalisierung aber auch viele Chancen für die Bildung. In dieser mehrteiligen Serie schätzen Experten aus Politik und Hochschulpolitik sowie Forscher aus verschiedenen Bereichen wie der Psychologie, Neurowissenschaft und Didaktik die Risiken und Chancen des digitalen Wandels ein. Beispiele zeigen, wie die Digitalisierung Studium und Lehre, aber auch die Lehrerausbildung an der WWU, verändern.

Teil 1: Chancen und Risiken? Ein Überblick
 

Dass der digitale Wandel uns in vielen Bereichen das Leben erleichtert, ist unbestritten. Fünf Minuten vor einer Verabredung den Treffpunkt ändern? Kein Problem. Bei einer Recherche mit wenigen Mausklicks mannigfaltige Ergebnisse bekommen? Tägliche Praxis. Im Supermarkt die Einkäufe über eine App direkt einscannen und bezahlen? Natürlich. Diese und viele andere Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen, stellt niemand in Frage – wir können sie nutzen oder es bleiben lassen. Aber wie steht es um die Digitalisierung in der Bildung, einem Bereich, in dem Schüler und Studierende nur bedingt selbst entscheiden können, welche Anwendungen genutzt werden? Wie viele andere Themen werden auch die Debatten um Chancen und Risiken des digitalen Wandels in Politik und Gesellschaft zum Teil ideologisch und interessengeleitet geführt. Aber auch in der Wissenschaft gehen die Meinungen zum sinnhaften Einsatz digitaler Formate auseinander.

In der Bildungsforschung etwa wird heiß diskutiert, was richtig, falsch, was zu viel oder zu wenig Digitalisierung ist. Das schwedische Karolinska-Institut, eine der größten und bedeutendsten medizinischen Universitäten in Europa, bezog dazu jüngst sehr deutlich Stellung. Nachdem die schwedische Regierung entschieden hatte, Vorschulen verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten, schlugen Neurowissenschaftler und Entwicklungspsychologen Alarm. Sie verwiesen zum einen darauf, dass man den Nutzen auf den Wissenserwerb mit diesen Mitteln in Studien bislang nicht nachweisen könne. Viel bedenklicher sei jedoch, dass „die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat“. Die schwedische Regierung machte ihre Entscheidung nach der Stellungnahme rückgängig.

Die Situation in Schweden, einem Land mit deutlich weiter fortgeschrittener Digitalisierung, lasse sich nicht eins zu eins mit der des deutschen Bildungssystems vergleichen, heißt es aus dem Zentrum für Hochschullehre an der Universität Münster. Ein differenzierter Blick auf die Thematik sei hilfreich. Weder löse die Digitalisierung alle Probleme im Bildungsbereich - noch sei sie an allem schuld, was falsch laufe. Für Hochschulen biete die Digitalisierung viele Chancen, solange die Nutzung der eingesetzten Medien überlegt und individuell angepasst würde.

An der Universität Münster wird zur Unterstützung und Ergänzung der Präsenzlehre die E-Learning-Plattform Learnweb genutzt. Dort gibt es Lernmaterialien, Präsentationen oder Skripte zur jeweiligen Lehrveranstaltung. Außerdem können Studierende sich vernetzen und organisieren, um gemeinsam zu lernen. Im Sommersemester 2023 nutzen rund 33.000 Studierende das Learnweb. Außerdem gibt es sogenannte E-Lectures, also aufgezeichnete Vorlesungen, und E-Tutorials. Im Uni-Netz gibt es über 7.000 deutsch- und englischsprachige Online-Trainings.


Damit aus Kindern, die heute den Umgang mit Mediennutzung lernen, Auszubildende und Studierende werden, die von diesem Wissen profitieren, braucht es entsprechende Kompetenzen.<address>© Thomas Park - unsplash</address>
Damit aus Kindern, die heute den Umgang mit Mediennutzung lernen, Auszubildende und Studierende werden, die von diesem Wissen profitieren, braucht es entsprechende Kompetenzen.
© Thomas Park - unsplash

Die Universität Münster treibt die Digitalisierung von Studium und Lehre eigenständig voran, denn in Nordrhein-Westfalen (NRW) gilt die Hochschulautonomie. Gleichwohl ist sie Teil der „Digitalen Hochschule NRW“, einer Kooperationsgemeinschaft aus 42 NRW-Hochschulen und dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft. „Digitale Lehrangebote haben das Potenzial, die Qualität des Studiums zu erhöhen“, betont ein Sprecher des Ministeriums. „Voraussetzung dafür ist, dass digitale Lehr-Lern-Szenarien didaktisch sinnvoll eingebettet werden, beispielsweise durch die Kombination von digitalen Lerninhalten mit Präsenzphasen. Digitale Formate ermöglichen mehr räumliche und zeitliche Flexibilität beim Studium und erleichtern so den Zugang zu Bildung und Abschlüssen – auch für Berufstätige, Studierende mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen sowie Menschen mit Behinderungen.“

Damit aus Kindern, die heute den Umgang mit digitaler und analoger Mediennutzung lernen, Auszubildende und Studierende werden, die von diesem Wissen profitieren, braucht es entsprechende Kompetenzen. Die Kultusministerkonferenz wies jüngst auf die Bedeutung hin, Kindern diese zu vermitteln – ein Punkt, in dem Einigkeit mit den schwedischen Forschern besteht. „In dieser Debatte muss es auch um Angebote zur Unterstützung der Professionalisierung von Lehrkräften für eine adäquate Nutzung digitaler Formate gehen“, findet Prof. Dr. Elmar Souvignier vom Institut für Psychologie in Erziehung und Bildung an der WWU. „Denn in diesem Bereich gibt es enormen Nachholbedarf.“ Auf diesen wiesen bereits im Jahr 2019 die Autoren der sogenannten Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens hin, die sich mit dem Einfluss von Digitalisierung auf Lesepraktiken befasst. Die Erklärung zu den Ergebnissen eines vierjährigen Forschungsprojekts unterzeichneten damals 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie prägten den Begriff der „Bildschirmunterlegenheit“, wonach längere Sachtexte schlechter verstanden und behalten werden, wenn man sie ausschließlich digital liest.

Für Andreas Gold, Experte für pädagogische Psychologie und Seniorprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt, ist nicht das Lesemedium entscheidend, sondern die Herangehensweise. In seinem aktuellen Buch „Digital lesen. Was sonst?“ bestätigt er zwar, dass Bildschirme zu einem oberflächlichen Lesen reizen, weil diese gewöhnlich als schnelles Recherchemedium dienen. Es sei aber möglich, sich auch digital einen langsameren, intensiveren Lesemodus anzueignen. In der Lehre könne man darauf schon durch die Aufgabenstellung Einfluss nehmen. Wenn Schüler und Studierende wüssten, dass sie Texte im Anschluss kurz schriftlich zusammenfassen sollen, würden sie diese aufmerksamer lesen – unabhängig vom Medium.

Neurowissenschaftler und Autor Dr. Henning Beck spricht sich dafür aus, Digitalisierung nicht um jeden Preis durchzuziehen. In einem Interview mit dem Wissenschaftsmagazin „Forschung und Lehre“ betonte er, man solle nicht digitalisieren, was analog besser funktioniert – „auch nicht um Lehre spannend zu machen“. Der Faktor Zeit spiele eine entscheidende Rolle. „Das Gehirn ist keine Festplatte, auf die wir Inhalte spielen, die automatisch gespeichert sind. Es ist wichtig, wie wir mit diesen Informationen umgehen. Sie braucht Zeit.“ Als Beispiel führt er das Schreiben von Texten mit der Tastatur an.  „Wir haben in wesentlich kürzerer Zeit eine viel größere Menge an Informationen im System. Aber genau das ist der Haken. Beim Tippen neigen wir dazu, das Gehörte 1:1 aufzuschreiben, ein rein auditiv-motorischer Prozess. Beim Schreiben mit der Hand selektieren wir. Die Handschrift schließt also einen Denkprozess ein, der etwa beim Tippen an der Tastatur wegfällt.“

Aber auch diese wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen sich unterschiedlich lesen. Ob man zusätzlich mit Block und Stift oder Tablet arbeitet, hängt oft von der eigenen Präferenz und Routine ab – und nicht vom Medium an sich.

Autorin: Hanna Dieckmann