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Die Autorin Gertrud B. beginnt ihr Tagebuch 1909 mit 17 Jahren. Als wohlhabende Bürgerstochter bringt der Vater sie 1910 ins Pensionat „Sonnenblick“ nach Thannbach – wovon die ersten Seiten berichten. Das Tagebuch schließt am 4. Januar 1916 mit der Eintragung: „Nun bin ich Braut“.<address>© Deutsches Tagebucharchiv, Gerhard Seitz</address>
Die Autorin Gertrud B. beginnt ihr Tagebuch 1909 mit 17 Jahren. Als wohlhabende Bürgerstochter bringt der Vater sie 1910 ins Pensionat „Sonnenblick“ nach Thannbach – wovon die ersten Seiten berichten. Das Tagebuch schließt am 4. Januar 1916 mit der Eintragung: „Nun bin ich Braut“.
© Deutsches Tagebucharchiv, Gerhard Seitz

Von der Bereitschaft, über das eigene Leben nachzudenken

Das Tagebuch: eine kleine, aber feine Nische der Literaturwissenschaft

Wer gerne liest, hat die Qual der Wahl. Literarische Genres – ob fiktional oder nicht-fiktional – gibt es in großer Zahl. In Deutschland sind Krimis und Thriller das Maß aller Dinge. In einer Studie der Unternehmensberatung Simon, Kucher und Partner von 2020 gab knapp die Hälfte der Befragten an, gerne spannende Bücher zu lesen. (Auto-)Biografien erfreuen sich demnach mit rund 30 Prozent ebenfalls großer Beliebtheit. Auch in der Literaturwissenschaft wird zur Unterhaltungsliteratur umfassend geforscht. So weit, so erwartbar. Am 12. Juni wird der Scheinwerfer indes auf eine kleine, aber feine Nische der Literatur gerichtet, mit der sich auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Universität Münster beschäftigen – es ist der internationale Tag des Tagebuchs. Er geht zurück auf den Geburtstag des jüdischen Mädchens Anne Frank, deren Tagebuch weltbekannt ist.

„Tagebücher sind ein privates, intimes Genre. Diese Textform zielt für gewöhnlich nicht auf Veröffentlichung ab“, erklärt Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf, die am Germanistischen Institut den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Moderne und Gegenwartsliteratur innehat. Tagebücher seien prozessual, also eine Art Mitschrift des Lebens, die Ereignisse Tag für Tag oder Eintrag für Eintrag festhalten. Dabei ist die offene Form nicht auf Abgeschlossenheit oder eine bestimmte Regelmäßigkeit ausgerichtet. Mitlaufende Datumsangaben helfen oft, die jeweilige Aktualität des Eintrags zu dokumentieren. Dass solche Mitschriften nicht verloren gehen, sondern der Wissenschaft und Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, hat sich das Deutsche Tagebucharchiv in Baden-Württemberg zur Aufgabe gemacht. Der hier gesammelte Bestand umfasst aktuell über 26.200 Dokumente von mehr als 5.000 Autorinnen und Autoren. „Autobiografische Zeugnisse sind wichtige Quellen für die Geschichts- und Kulturforschung, vor allem für die Erforschung der Alltags- und Mentalitätsgeschichte“, sagt Marlene Kayen, Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins.

Was Menschen in Tagebüchern festhalten, variiert stark. „Es kann sich um intime Details handeln, häufig wird aber auch Zeitgeschehen protokolliert. Daneben sind verschiedene Mischformen möglich. Auch ein Arbeitsjournal ist eine Art Tagebuch“, betont Martina Wagner-Egelhaaf. Tagebücher hätten, was die sprachliche Ausgestaltung anbelangt, manchmal eher Notizcharakter. Sie können aber auch stilistisch geformt sein. Wie und warum ein Tagebuch entsteht, was es in welcher Form enthält, ist also individuell. Eine Besonderheit fällt auf. „Wir beobachten, dass in Krisenzeiten mehr Tagebuch geschrieben wird – beispielsweise während der beiden Weltkriege oder zu Zeiten der Spanischen Grippe sowie der Coronapandemie“, berichtet Marlene Kayen.

Um die Gattung des Tagebuchs klarer zu umreißen, ist es sinnvoll, sie von anderen literarischen Genres abzugrenzen. Biografien beziehungsweise Autobiografien weisen, was Form und Inhalt betrifft, die größte Nähe zu Tagebüchern auf. Es gibt allerdings entscheidende Unterschiede. „Autobiografien sind in der Regel linear erzählende Lebensbeschreibungen, die oft rückblickend angefertigt werden. Das Tagebuch läuft mit“, beschreibt Martina Wagner-Egelhaaf. Dennoch seien Tagebücher auch autobiografische Texte, und „gar nicht so selten wird die Tagebuchstruktur als Muster für die Autobiografie oder auch für autofiktionales Erzählen verwendet“ – beispielsweise in Max Frischs Erzählung „Montauk“ (1975). „Gerade in der Moderne gibt es eine Skepsis gegenüber der einheitlichen Form der Autobiografie, weil das moderne Leben oft gar nicht mehr als einheitlich und sich kontinuierlich entwickelnd empfunden wird“, ergänzt die Literaturprofessorin. In der Moderne öffne sich die Autobiografie auf die Form des Tagebuchs hin.

Wann die ersten Tagebucheinträge oder vergleichbare Aufzeichnungen gemacht wurden, lässt sich nicht exakt nachzeichnen. Vorläufer sind bereits aus der Antike bekannt, zum Beispiel Aufzeichnungen über das Wetter, den Alltag oder auch Traumbeschreibungen aus dem sechsten Jahrhundert. Die älteste Chronik im Tagebucharchiv stammt aus dem Jahr 1760, ein kleiner Notizkalender eines Feldpredigers. „Der Mann wanderte mit Soldaten im Siebenjährigen Krieg nach Thüringen. Seine Aufzeichnungen sind sachlich gehalten und keineswegs emotional. Aber sie geben einen einmaligen Einblick in die damalige Zeit“, beschreibt Marlene Kayen.

Laut Martina Wagner-Egelhaaf ist die Entwicklung des Tagebuchs als literarische Gattung keine lineare, da Formen und Funktionen stark variieren. „Es lässt sich aber festhalten, dass sich mit dem Aufkommen des Konzepts der Individualität ab etwa dem 16. Jahrhundert das Bedürfnis entwickelte, über das eigene Leben nachzudenken“, bemerkt sie. Eine Quelle des modernen Tagebuchs aus dieser Zeit seien Kaufmannsbücher, in denen sich neben geschäftlichen Aufzeichnungen auch private Notizen finden. Die Bereitschaft, sich mit sich selbst zu beschäftigen, war für die Entwicklung des Tagebuchs entscheidend. Im Archiv finden sich zudem Mitschriften, die eine Hinwendung zur Selbstoptimierung dokumentieren. „Im 19. Jahrhundert zeigen Einträge die Bemühungen junger Frauen, ein für die diese Zeit möglichst gottgefälliges, frauengerechtes Leben zu führen“, berichtet Marlene Kayen. „Zuvor kam bereits die Vorstellung vom Tagebuch als Freund, dem man etwas anvertrauen kann, auf“, ergänzt Martina Wagner-Egelhaaf.

Eine signifikante Rolle bei der Entwicklung des Tagebuchs spielt die mediale Genese. Sie lässt sich von handschriftlichen Aufzeichnungen über maschinen- und computerschriftliche Formate bis hin zu digitalen Formen nachzeichnen. „Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung stehen heute Social-Media-Posts. Ich betrachte sie als moderne Tagebücher“, sagt Martina Wagner-Egelhaaf. Sie könne sich nicht vorstellen, dass das Bedürfnis schwindet, sich schriftlich mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen, wenngleich sich Art und Weise stetig veränderten. „Da hilft auch kein ChatGPT“, fügt sie augenzwinkernd hinzu. „Tagebuchschreiben ist ein materieller, auch körperlicher Reflexionsprozess, der für viele Menschen in verschiedenen Lebenssituationen wichtig ist. Welche Formen sich entwickeln werden? Darauf darf man gespannt sein.“

Autorin: Hanna Dieckmann

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 7. Juni 2023.
 

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