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Münster (upm/ch).
Dr. Michael te Vrugt arbeitet im Spagat zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften – für ihn eine willkommene Abwechslung.<address>© WWU - Peter Leßmann</address>
Dr. Michael te Vrugt arbeitet im Spagat zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften – für ihn eine willkommene Abwechslung.
© WWU - Peter Leßmann

Neugierig weiterfragen, wenn andere abschalten

Michael te Vrugt ist Physiker und Philosoph – derzeit schreibt er an seiner zweiten Doktorarbeit

An einem Dienstagabend Ende April füllt sich Raum 102 im Volkshochschul-Gebäude in der Vagedesstraße in Ahaus. Um kurz vor halb acht steht fest: Die Stühle reichen nicht. Schnell stellt das VHS-Team weitere Sitzgelegenheiten auf – bis alle der etwa 40 Anwesenden einen Platz gefunden haben. Das Publikum wartet auf den Beginn des ersten Vortrags der dreiteiligen Reihe „Von Physik zu Philosophie am Ursprung des Universums“. Der Referent kommt von der Universität Münster und heißt Dr. Michael te Vrugt.

Er ist 27 Jahre alt und hat – so wie es aussieht – bald seinen Doktortitel in Philosophie in der Tasche. Einen Doktor hat er bereits, und zwar in Physik. Wie schon seine Masterarbeit in diesem Fach war seine Physikdissertation, die er 2022 unter der Leitung von Prof. Dr. Raphael Wittkowski am Institut für Theoretische Physik abschloss, die beste seines Jahrgangs. Fast überflüssig zu erwähnen, dass der gebürtige Stadtlohner, der ein Gymnasium in Ahaus besuchte, 2014 das beste Abitur seiner Jahrgangsstufe ablegte.

Rückblende, einige Wochen vor dem Vortrag: Bei einem Gespräch im Kaffeeraum des Instituts für Theoretische Physik sitzt Michael te Vrugt auf einem Sofa, zu seinen Füßen Rucksack und Fahrradhelm, hinter dem Sofa eine Rolle mit einem wissenschaftlichen Poster. Gleich im Anschluss möchte er zu der Disputation eines Kollegen gehen – einer von vielen Terminen in seinem Kalender. Als er von seiner Arbeit, seinen Beweggründen für den Spagat zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und seinen Hobbys berichtet, wird schnell klar: Dick aufzutragen ist nicht seine Art.

Als Grundschüler wollte er gerne Treckerfahrer werden. „Ich komme ja vom Land“, sagt Michael te Vrugt. Aber dieser Wunsch verflüchtigte sich schnell, und danach stand das neue Berufsziel fest: Professor. Wie er darauf kam, weiß er nicht mehr. Nach dem Abitur fing er mit dem Physikstudium an und hatte Philosophie als Nebenfach. Das wäre nach zwei Semestern vorbei gewesen, aber da es so viel Spaß machte, blieb er dabei. „Im Philosophiestudium hat man viele Freiheiten. Dadurch konnte ich die Vorlesungen und Seminare gut um den stark vorgegebenen Physik-Stundenplan herumlegen“, erinnert er sich.

Sein Büro hat Michael te Vrugt im Center for Soft Nanoscience, aber zwischendurch hat er auch im Institut für Theoretische Physik und im Philosophikum zu tun oder arbeitet von zuhause aus – dann gerne auch abends oder nachts. Ob er das doppelte Studium und die doppelte Promotion als Belastung empfunden hat? „Klar, manchmal war es anstrengend. Aber es ist für mich noch anstrengender, immer nur das Gleiche zu machen. Es war also eher eine willkommene Abwechslung“, sagt Michael te Vrugt, der während seines Studiums viel Zeit in die Physik-Fachschaftsarbeit steckte, als Trompeter regelmäßig mit einer Blaskapelle auftritt, im Schützenverein seiner Heimatstadt aktiv ist und mit Begeisterung Quidditch spielt. Diese relativ junge Sportart beruht auf dem gleichnamigen fiktiven Mannschaftssport aus der Harry-Potter-Zauberwelt. Kürzlich war Michael te Vrugt mit dem Team des Hochschulsports bei den europäischen Quidditch-Meisterschaften im ostfranzösischen Golbey am Start.

In seiner Dissertation in der statistischen Physik befasste er sich mit dem Verhalten von Systemen aus vielen sich bewegenden Teilchen. Die Ausbreitung von Coronaviren abhängig vom Abstand, den die Menschen voneinander halten, ist ein Beispiel dafür. Die Expansion des Universums seit dem Urknall ist ein anderes: Ein Team mit Michael te Vrugt entwickelte mit einer erstmals dafür genutzten mathematischen Herangehensweise ein Modell, in dem die ungleichmäßige Verteilung der Masse im Universum berücksichtigt wird. Die Kernfrage der verschiedenen Arbeiten lautet über die unterschiedlichen Längenskalen hinweg: Wie verändert sich der Zustand des Systems im Laufe der Zeit? Auf Michael te Vrugts Publikationsliste stehen bereits mehr als 20 Paper in teils hoch angesehenen Fachzeitschriften.

Aber warum zusätzlich die Philosophie? „Physiker hören an Stellen auf zu fragen, an denen man weiterfragen könnte“, antwortet Michael te Vrugt. „Warum beobachtet man nie“, gibt er ein Beispiel, „dass eine Kaffeetasse von selbst wieder warm wird? Nach den Gesetzen der Physik wäre es möglich. Physiker erklären es damit, dass es, statistisch betrachtet, viel wahrscheinlicher ist, dass der Kaffee abkühlt. Philosophen geben sich damit nicht zufrieden, sondern hinterfragen die Definition von Wahrscheinlichkeit.“ Seine zweite Doktorarbeit schreibt Michael te Vrugt bei Prof. Dr. Ulrich Krohs und Dr. Paul Näger am Philosophischen Seminar über die Frage, warum es in der Physik eine eindeutige Zeitrichtung gibt.

Zurück nach Ahaus: Nach dem Schlussapplaus verabschiedet VHS-Direktor Dr. Nikolaus Schneider das Publikum und den Referenten. Bei der Begrüßung hatte er den Zuhörern von einem anderen besonders gut besuchten Philosophie-Vortrag an seiner VHS berichtet. Damals ging es um Immanuel Kant; der Vortrag liegt gut zehn Jahre zurück. Im Publikum, erinnert sich Nikolaus Schneider, saß damals ein Jugendlicher, der ihm „durch seine zahlreichen klugen Fragen“ aufgefallen war. Dieser junge Mann war Michael te Vrugt.

 

Autorin: Christina Hoppenbrock

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 3. Mai 2023.

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