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Münster (upm/kn)
Dossier-Abschluss: Deutschland braucht eine tragfähige Strategie und kann von anderen Ländern lernen<address>© stock.adobe.com - tai111</address>
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Dem demografischen Wandel mutig begegnen

Dossier-Abschluss: Deutschland braucht eine tragfähige Strategie und kann von anderen Ländern lernen

Anders als lange von Experten vorhergesagt, wird die Bevölkerungszahl in Deutschland in den kommenden Jahren nicht schrumpfen, sondern konstant bleiben. Diese Entwicklung ist hauptsächlich auf die Zuwanderung zurückzuführen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung prognostiziert in der Studie „Die demografische Lage der Nation“, dass im Jahr 2035 rund 82,3 Millionen Menschen in Deutschland leben werden – knapp ein Prozent weniger als heute.

Bedeutet dies eine Entwarnung für die häufig geäußerte Befürchtung, dass die Bevölkerungszahl sinken wird und dass die Deutschen durchschnittlich immer älter werden? Mitnichten. „Die Alterung der Gesellschaft schreitet weiter voran. Und der demografische Wandel verläuft in Deutschland nicht synchron – es gibt große regionale Unterschiede“, betont Frederick Sixtus, Projektkoordinator „Demografie Deutschland“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die fünf ostdeutschen Bundesländer hätten teilweise mit erheblichen Bevölkerungsverlusten zu rechnen. Auch ländliche Räume im Westen sowie strukturschwache, ehemalige Industriestandorte im Ruhrgebiet und im Saarland würden Einwohner verlieren, prophezeit der Experte. Die ohnehin beliebten Städte in Ost und West wie etwa Frankfurt am Main, Leipzig und München könnten sich hingegen auf sogenannte Wanderungsgewinne einstellen, insbesondere von jungen Menschen und Berufseinsteigern.

Den stärksten demografischen Einbruch gibt es bundesweit bei den 20- bis 64-Jährigen, also bei der Erwerbsbevölkerung. Denn bis 2035 verabschieden sich die Babyboomer, die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit, in den Ruhestand. „Ab 2030 werden doppelt so viele Menschen in den Ruhestand gehen, als Menschen erwerbstätig werden“, erläutert Frederick Sixtus. Dementsprechend wird die Altersgruppe 65 plus deutlich größer. Die Entwicklung hat nicht nur Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Auch die Sozialsysteme sind davon betroffen. „Wir sind auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen, um dem zunehmenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Deshalb ist Zuwanderung vor allem eine Chance“, verdeutlicht Frederick Sixtus. Wichtig sei es, dass die unterschiedlich vom demografischen Wandel betroffenen Regionen fit für die Zukunft gemacht würden. „Bevölkerung und Kommunen müssen in der Lage sein, Probleme wie die Digitalisierung zu lösen. Damit Lösungen vor Ort gefunden werden können, muss die Politik die Voraussetzungen dafür schaffen“, erklärt er.

Das Phänomen der zurückgehenden Geburtenrate und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Alterung betrifft jedoch nicht nur Deutschland, sondern es tritt weltweit auf. Der Umgang mit den daraus resultierenden Herausforderungen ist von Land zu Land unterschiedlich.

Mit Automatisierung dem Arbeitskräftemangel begegnen

Japan steht vor einem beispiellosen Alterungsproblem. Der Rückgang der Erwerbsbevölkerung stellt ein ernst zu nehmendes Problem für das Land dar. Die Vereinten Nationen sagen in ihrer Weltbevölkerungsprognose von 2019 voraus, dass sich die japanische Bevölkerungszahl ab 65 Jahren von 18 Millionen (1995) auf 34 Millionen (2045) nahezu verdoppeln wird. Neben einer stabilen Frauenerwerbsquote, der Weiterbeschäftigung der älteren Bevölkerung und ausländischen Arbeitskräften setzt Japan auf den technologischen Fortschritt, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Durch die Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz und Robotik soll die wirtschaftliche Produktivität konstant gehalten werden. Anders als beispielsweise in Europa sieht man in Japan die Automatisierung und Robotik nicht als Bedrohung für die Arbeitsplätze an. Bereits heute ist es in Restaurants, Hotels, Geschäften, Flughäfen und Banken üblich, ausschließlich von Robotern bedient zu werden. Wenn es Japan gelingt, die neuen Technologien noch intensiver in den Arbeitsprozess zu integrieren, kann das ein Vorbild für andere Länder mit ähnlicher demografischer Struktur darstellen.

Kapitalgedeckte Prämienrente macht den Unterschied

Bereits in den späten 1980er-Jahren baute Schweden sein Rentensystem wegen des demografischen Wandels um. Wie in Deutschland setzt sich das Rentensystem in dem skandinavischen Land aus drei Säulen zusammen: die staatliche Rente als Umlageverfahren, Betriebsrenten und die private Altersvorsorge. Mit der staatlichen Rente finanziert Schweden eine Volksgrundrente, die für alle Bürger etwa gleich hoch ist. Der Unterschied ist die sogenannte Prämienrente. Der Staat zieht dafür 2,5 Prozent des Bruttoeinkommens automatisch ein. Das Geld wird an Kapitalmärkten angelegt. Jeder Beitragszahler kann sich die Anlage selbst aussuchen. Es stehen staatlich verwaltete und privatwirtschaftliche Fonds zur Auswahl. Ergänzend zur zusätzlichen kapitalgedeckten Prämienrente knüpft die schwedische Regierung die Altersgrenze an die Lebenserwartung. „Als Richtlinie gilt in Schweden, aber auch in Dänemark, dass eine um zwei Jahre gestiegene Lebenserwartung eine Anpassung des Renteneintrittsalters von einem Jahr zur Folge hat“, führt Prof. Dr. Heinz-Dietrich Steinmeyer, Emeritus am Institut für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht (Abteilung II) der WWU, aus. „Den skandinavischen Ländern ist zu bescheinigen, dass sie das demografische Problem mutig angehen.“

Einwanderung als Erfolgsrezept

Kein anderes Land der Welt nimmt so viele Einwanderer pro Kopf auf wie Kanada. Die Nordamerikaner verfolgen mit ihrer Zuwanderungspolitik das Ziel, gut ausgebildete und qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland für sich zu gewinnen und langfristig daraus einen ökonomischen Nutzen zu ziehen. Während Kanada früher fast ausschließlich Europäer einwandern ließ, änderte sich das mit der Einführung eines bis heute mehrfach geänderten Punktesystems im Jahr 1967. „Damals sah sich Kanada mit grundlegenden Herausforderungen konfrontiert, die der Situation in Deutschland nicht ganz unähnlich sind: ein weitreichender demografischer Wandel, zurückgehende Geburtenraten, Arbeitskräftemangel sowie der Druck, die volkswirtschaftliche Innovationsfähigkeit zu erhöhen“, schildert Prof. Dr. Oliver Schmidtke von der Universität von Victoria. Kanada habe sich praktisch neu erfunden – weg von einer weißen Siedlergesellschaft hin zu einer global orientierten und weltoffenen Immigrationsgesellschaft.

Autorin: Kathrin Nolte

Dieser Beitrag stammt aus der Unizeitung Nr. 5, 6. Juli 2022.

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