"Corona hat die Defizite aufgedeckt"
Trotz unterschiedlicher Coronaprognosen für den Herbst wirft aktuell ein weitgehend einschränkungsfreier Sommer seine Schatten voraus. Viele Wissenschaftler beschäftigen sich indes weiter mit den Folgen der Pandemie. Sportpsychologe Dr. Dennis Dreiskämper hat die Auswirkungen auf Bewegung und Fitness von Kindern und Jugendlichen untersucht. Im Interview mit Hanna Dieckmann berichtet er, welche Kinder besonders betroffen sind und welche Ergebnisse ihn überrascht haben.
Sie haben zu Beginn der Pandemie den Fitnessstand und das psychische Wohlbefinden von 250 Kindern einer münsterschen Grundschule erhoben. Ein Jahr später überprüften Sie das Bewegungsverhalten der gleichen Kinder und deren Eltern. Was ist Ihnen aufgefallen?
Die körperliche Aktivität hat sich im Laufe der Pandemie verändert: Kinder sind im Durchschnitt körperlich weniger aktiv. Das hat aber nicht auf alle Kinder die gleiche Wirkung. Manche konnten gut kompensieren, dass Angebote durch Schule, Ganztag und Verein ausgefallen sind, andere nicht. Deswegen lässt sich nur für einen bestimmten Teil der Kinder sagen, dass ihre Fitness gelitten hat.
Welche Kinder sind besonders betroffen und wieso?
Das sind in der Regel die sozial schwächeren und damit ohnehin gefährdeten Kinder sowie diejenigen, die schon vorher nicht so aktiv waren. Besonders betroffen sind Kinder, in deren sozialem Umfeld mehrere sogenannte Risikofaktoren vorliegen. Darunter fallen: geringes Einkommen, niedriger Erwerbsstatus, niedrige Bildung, Migrationshintergrund, frühe Geburt oder mehr als drei Geschwisterkinder. Einzelne Faktoren sind dabei nicht entscheidend. Wenn sich jedoch mehrere Faktoren in einer Familie summieren, sind die Kinder besonders gefährdet. Das lässt sich auch am Anstieg des durchschnittlichen Gewichts und sinkender Fitness erkennen.
Ist die Pandemie ein Treiber dafür, dass die soziale Schere weiter auseinandergeht?
Ja. Man kann erkennen, dass Corona wie ein Brennglas gewirkt hat. Die Pandemie hat sowohl die Defizite als auch die Unterschiede aufgedeckt. Unterschiede zwischen Kindern ohne oder mit nur einem Risikofaktor im Elternhaus und denen, in deren Familien mehrere Risikofaktoren vorliegen, gab es vorher allerdings auch schon. Kinder aus guten Elternhäusern waren entsprechend besser vor den Folgen der Pandemie geschützt.
Werden die Auswirkungen der Corona-Pandemie bei Kindern zu Langzeitfolgen führen?
Das ist schwer vorherzusagen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Pandemie Langzeitfolgen haben wird, ist sehr hoch. Sport und Bewegung sind nicht nur wichtige Faktoren des gesunden Aufwachsens, sondern auch der Sozialisation. Hier fehlen einer ganzen Generation wichtige Erfahrungen in sehr sensiblen Entwicklungsjahren. Zudem sind die Wartelisten für bestimmte Angebote sehr lang, beispielsweise für Schwimmkurse. Wir vermuten, dass die Kinder aus besser situierten Elternhäusern die beschränkten und nun – wegen des Lockdowns im Jahr 2020 – oftmals für doppelt so viele Kinder notwendigen Kurse belegen werden.
Welche Appelle an Politik und Wissenschaft resultieren daraus?
Die Politik muss sich nicht nur dringend mit der Notwendigkeit von Bewegung, Spiel und Sport für ein gesundes Aufwachsen und den physischen, psychischen und sozialen Gesundheitseffekten beschäftigen. Es müssen vor allem niedrigschwellige Zugänge geschaffen werden, die zielgerichtet vor allem sozial schwachen Familien helfen. Diese Familien müssen an die Hand genommen werden: Bereits im Kindergartenalter sollte das Thema gesundes Aufwachsen in der Familienarbeit stärker etabliert werden. Dabei geht es um Bewegung, aber zum Beispiel auch um Ernährung oder allgemeine Gesundheitskompetenz.
Waren Sie von bestimmten Ergebnissen der Studie überrascht?
Es war überraschend, dass fitte Kinder robust in Sachen Fitness und Gewicht durch die Pandemie gekommen sind. In Spielstraßen konnte man während des ersten Lockdowns sehen, dass diese Kinder den geschützten Raum nutzen konnten – zum Beispiel um Fahrradfahren oder Inlineskaten zu lernen. Ein Garten und eine bewegungsfreudige Umgebung scheinen also sehr gute Schutzfaktoren gewesen zu sein, die leider nicht jedes Kind hat. Insgesamt ist der Anteil der übergewichtigen Kinder aber sehr viel stärker angestiegen, als wir vermutet hatten – nicht nur in dieser Studie im eher gut situierten Altenberge. An anderen Orten sieht es viel dramatischer aus.
Dieser Text stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 6. April 2022.