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Münster (upm/hd)
Wie Tiere in Deutschland gehalten werden, löst viele Diskussionen aus.<address>© adobe.stock.com</address>
Wie Tiere in Deutschland gehalten werden, löst viele Diskussionen aus.
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Für einen sensiblen Umgang mit Tieren

Welche Bedeutung Tierwohl für die Würde des Menschen hat – ein theologisch-ethischer Gastbeitrag

Beim Agrarkongress sprachen sich Umweltministerin Steffi Lemke und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (beide Bündnis 90/Die Grünen) jüngst für einen Schulterschluss und gemeinsamen Aufbruch aus. "Denn nur gemeinsam kann man mehr für die Umwelt erreichen. Die Zeit ist reif, Landwirtschaft, Natur, Umwelt und Klimaschutz endlich unter einen Hut zu bekommen", betonten beide Ressortchefs. Hehre Absichten, die in Zeiten von Massentierhaltung, Umweltkatastrophen und Artensterben überfällig sind. In einem Gastbeitrag blickt der evangelische Theologe Prof. Dr. Arnulf von Scheliha aus theologischer, ethischer und philosophischer Perspektive auf das Thema Tierwohl.

In den aktuellen Diskursen der großen Religionsgemeinschaften spiegelt sich wachsende Sensibilität für Fragen des Tierwohls, Tierschutzes und der Tierethik. Im Mittelpunkt stehen Heimtiere, Nutztierhaltung und Fragen der Ernährung. Die Tiere werden als "Mitgeschöpfe" gewürdigt, denen man sich um ihrer selbst willen in Solidarität verpflichtet weiß. Damit verbindet sich für Christen eine kritische Revision des klassischen Verständnisses der biblischen Überlieferung. Üblicherweise wurde die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Freibrief dafür verstanden, sich des tierlichen Lebens zu vielen Zwecken zu bemächtigen und die natürlichen Ressourcen rücksichtslos zu nutzen.

Prof. Dr. Arnulf von Scheliha, evangelischer Theologe<address>© WWU - Brigitte Heeke</address>
Prof. Dr. Arnulf von Scheliha, evangelischer Theologe
© WWU - Brigitte Heeke

Diese Auslegung gehört in die Vorgeschichte der massiven Probleme, die die Menschheit gegenwärtig im Verhältnis zur belebten und unbelebten Natur (Klimakatastrophe) hat. Aber es greift zu kurz, die religiösen Überlieferungen dafür verantwortlich zu machen. Ursächlich für sie dürfte vor allem die von Arnold Gehlen als „Superstruktur“ bezeichnete Kombination aus moderner Naturwissenschaft, technischer Welt und kapitalistischer Marktökonomie sein. Dagegen finden sich bereits in den Heiligen Schriften kritische Diskurse, in denen man sich gegen die Ausnahmestellung des Menschen wendet. "Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh. Wie dies stirbt, so stirbt auch er, und sie haben einen Odem, und der Mensch hat nichts voraus vor dem Vieh" – so liest man beim Prediger Salomo (3,19).

Dem Befund der biblischen Überlieferung wird man eher gerecht, wenn man sie als kritische Auseinandersetzung mit den Paradoxien unseres Umgangs mit den Tieren und der Natur versteht. Denn die Menschen sind eben nicht nur Gottes Ebenbilder, sondern auch "Sünder" – sie bleiben also in ihrem Wollen und Tun ihren Nächsten, ihren tierlichen Mitgeschöpfen und der Natur viel schuldig. Gegenwärtig ziehen viele Christen daraus den Schluss, die Solidarität mit den Mitgeschöpfen zu betonen und Verantwortung für sie zu übernehmen. In ihrer Schrift "Nutztier und Mitgeschöpf" (2019) stellt die Evangelische Kirche in Deutschland fest, "dass zwischen Tierwohl, Menschenwohl und Schöpfungswohl ein unauflöslicher Zusammenhang besteht", so dass Tierhaltung die "wissenschaftlich anerkannten fünf Freiheiten […] als Parameter für das Wohlbefinden der Tiere zu beachten [hat]: Freiheit von Hunger und Durst, Freiheit von haltungsbedingten Beschwerden, Freiheit von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten, Freiheit von Angst und Stress, Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster".

Für die gesellschaftliche Debatte über den Tierschutz ist es bedeutsam, wenn sich die Religionsgemeinschaften darin engagieren. Denn durch die tierfreundliche Lesart ihrer heiligen Überlieferungen zeigen sie exemplarisch, wie Aufmerksamkeit und Sensibilität für Tierwohl und Tierschutz mit den anderen Dimensionen der Lebensführung vermittelt werden können. In Ergänzung zu tierethischen Aktivisten, die Aufmerksamkeit für tierethische Missstände durch spektakuläre Einzelaktionen erzeugen, ist die Aufgabe der Religion darin zu sehen, wesentliche Beiträge zur individuellen Aneignung und zum sensiblen Umgang mit den Tieren im täglichen Leben zu leisten. Die integrale Funktion des religiösen Bewusstseins vermag es, tierethische Einsichten mit der gesamten Lebensführung zu verbinden. Wenn sich das bei vielen Menschen vollzieht, bekommt Tierethik Priorität, ist kein Elitenprojekt mehr, sondern kann Teil dessen werden, was der Philosoph Hegel als "Sittlichkeit" bezeichnet hat, und zum Fundament des Rechtes werden. Als Beispiel sei auf § 1 des Tierschutzgesetzes verwiesen, in dem als Zweck des Gesetzes bestimmt wird, "das Tier als Mitgeschöpf […] zu schützen." Hier begegnet in einem profanen Gesetz eine moderne Transformation der Erschaffung der Welt, von der in den Heiligen Schriften von Judentum, Christentum und Islam erzählt wird.

Die neue Bundesregierung will dieses Tierschutzgesetz verbessern. Davon sollen vor allem die landwirtschaftlichen Nutztiere profitieren, etwa durch angemessenen Stallbau, Reduktion nicht kurativer Eingriffe, Beendigung der Anbindehaltung, Reduktion der Tiertransporte und des Einsatzes von Antibiotika. Ebenso wichtig sind auch die Vorhaben im Umwelt- und Naturschutz, etwa die Verbesserung des Insektenschutzes, der Kampf gegen Wilderei und ein differenziertes Bestandsmanagement für Wölfe. Mit der Verbesserung der Nutztierhaltung gehen die Regierungsparteien ein ebenso wichtiges wie brisantes Thema an, weil es auch die ökonomischen Interessen nicht nur der Landwirtschaft, sondern auch der Verbraucher berührt. Der politischen Aufwertung des tierlichen Lebens dient auch die Einführung des Amtes einer Tierschutzbeauftragten. Man kann daher sagen: Das tierethische Problembewusstsein zumindest ist in der Regierungspolitik angekommen. Die Umsetzung muss sich freilich der Mühen der Verfahren, der Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen und den erheblichen Defiziten beim Vollzug des Tierschutzgesetzes stellen.

Daher braucht es weiterhin eine kritische Öffentlichkeit, in der sich die Gesellschaft über tierethische Standards verständigt. In ihr werden die Wissenschaften, die Tierhalter und -verbraucher ebenso eine wichtige Rolle spielen wie die Religionsgemeinschaften, in deren symbolischem Gedächtnis die Paradoxien des Mensch-Tier-Verhältnissen fest eingeschrieben sind und die sie immer wieder neu zur Sprache bringen werden. Common sense dürfte sein: Tiere sind unsere "Mitgeschöpfe". Es gehört zu unserer Würde, dass wir ihnen Raum für ihre Freiheit geben.

Prof. Dr. Arnulf von Scheliha ist Professor für Theologische Ethik und Direktor des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften.

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