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Münster (upm/kn)
Zwischen 1960 und 2020 haben sich viele Lebensentwürfe und damit auch Lebensläufe grundlegend verändert. Dieser Wandel hatte und hat Auswirkungen auf wichtige demografische Kennziffern wie die Heirats- und die Geburtenrate.<address>© WWU - gucc</address>
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"Viele Lebensentwürfe haben sich verändert"

Der Wandel hat Auswirkungen auf wichtige demografische Kennziffern wie die Heirats- und die Geburtenrate

Zwischen 1960 und 2020 haben sich viele Lebensentwürfe und damit auch Lebensläufe grundlegend verändert. Dieser Wandel hatte und hat Auswirkungen auf wichtige demografische Kennziffern wie die Heirats- und die Geburtenrate.

Die 1950er-Jahre gelten als goldenes Zeitalter von Heirat und Ehe. Eine überwältigende Mehrheit junger Menschen strebte seinerzeit danach, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Um 1960 erreichte die Heiratsrate mit gut zehn Promille (10 Eheschließungen pro 1000 Einwohner) ein nie mehr erreichtes Maximum – dies ging mit einer hohen Geburtenrate, dem noch heute bekannten letzten Babyboom, einher. In den vergangenen 20 Jahren war demgegenüber nur für eine Minderheit junger Erwachsener die Ehe die Grundlage für eine Partnerbeziehung oder Elternschaft. Dementsprechend ist heute die Heiratsrate nur noch halb so hoch wie um 1960. Seit 2010 kommen ein Drittel der Kinder in einer nichtehelichen Geburt zur Welt – um 1965 waren es nur sechs Prozent.

Der zentrale Treiber dieser Veränderung war ein umfassender Wertewandel, in dessen Zusammenhang individuelle Selbstverwirklichung an gesellschaftlicher Bedeutung gewann. Dies schlug sich zum einen in einer Liberalisierung der Normen bezüglich Sexualität und Ehe nieder. Dazu zählen die Verbesserung des Zugangs zu Verhütungsmitteln (ab 1970), die Liberalisierung des Sexualstrafrechts (1969, 1972) und des Schwangerschaftsabbruchs (1974/76) sowie die Reformen von Familien- und Scheidungsrecht (1976). Sie ermöglichten eine Auflösung der bisher geltenden Bündelung von Sexualität, Elternschaft und Ehe.

Zum anderen ging die Individualisierung mit einer Bildungsrevolution einher, die die Möglichkeiten von Lebensentwürfen erweiterte. Sie verbesserte das Bildungsniveau junger Frauen und steigerte ihre Erwerbschancen. Damit fielen mit Mutterschaft verbundene Einkommenseinbußen stärker ins Gewicht. Zusammen mit dem verbesserten Zugang zu Verhütungsmitteln gilt dies als Hauptgrund dafür, dass in den alten Bundesländern zwischen 1965 und 1975 die Geburtenziffer von 2,5 Geburten pro Frau auf 1,4 fiel, um seither auf diesem Niveau zu verharren. Die Entschärfung der Konflikte von Frauen zwischen ihren Rollen als Mütter, Erwerbstätige und Hausfrauen ist deshalb zu einem wichtigen Feld der Familien- und Sozialpolitik geworden.

Der Autor Prof. Dr. Ulrich Pfister hat den Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der WWU inne.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 2. Februar 2022.

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