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Münster (upm)
Die Hamburger Rockband „Tocotronic“ um Sänger Dirk von Lowtzow gehört seit ihrer Gründung 1993 zu den politisch umtriebigsten Musikgruppen der deutschen Popszene.<address>© picture alliance / Geisler-Fotopress | Rudi Keuntje/Geisler-Fotopress</address>
Die Hamburger Rockband „Tocotronic“ um Sänger Dirk von Lowtzow gehört seit ihrer Gründung 1993 zu den politisch umtriebigsten Musikgruppen der deutschen Popszene.
© picture alliance / Geisler-Fotopress | Rudi Keuntje/Geisler-Fotopress

Wenn Musik zur Waffe wird

Wie sich die Verbindung von Pop und Politik im Verlauf der Zeit änderte – ein Gastbeitrag

Im Jahr 1970 scheint noch alles klar zu sein: „Musik ist eine Waffe“, schreibt die Gruppe Ton Steine Scherben mit Verve in ihrem gleichnamigen Manifest. Weit lehnt sie sich nicht aus dem Fenster. Damit die Musik der Westberliner um Rio Reiser zur Waffe werden kann, müssen sie ihrer LP „Keine Macht für Niemand“ noch nicht mal eine Zwille beilegen, wie sie es der Legende nach ursprünglich geplant hatten. Ihr Pop – wir können ihn als ersten deutschsprachigen Pop überhaupt diskutieren – provoziert auch ohne Steinschleuder.

Moment mal! Die Musik von Ton Steine Scherben soll Pop sein? Na klar. Die Musik von Ton Steine Scherben ist Pop, wenn wir von einem breiten Pop-Begriff ausgehen und auf kleinteilige Genre-Beschreibungen verzichten. Pop ist demnach, was provoziert, knallt und potenziell Grenzen verschiebt. Zumindest um 1970 herum, als wir uns noch in der Phase von Pop I befinden, die etwa um 1955 mit Elvis Presley einsetzt. Pop bedeutet zu diesem Zeitpunkt Affirmation, „sexuelle Befreiung, englischsprachige Internationalität, Zweifel an der protestantischen Arbeitsethik und den mit ihr verbundenen Disziplinarregimes“ – der Pop stehe „aber auch für Minoritäten und ihre Bürgerrechte und die Ablehnung von Institutionen, Hierarchien und Autoritäten“, wie der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen Ende der 1990er-Jahre schreibt.

„Ich will nicht werden, was mein Alter ist“, sangen Ton Steine Scherben entsprechend. Das klingt zunächst wie der übliche Generationenkonflikt, ist aber gleichzeitig ein historisch besonderer. Pop ist zu dieser Zeit nicht einfach Emanzipation von der Elterngeneration, sondern Emanzipation von einer Elterngeneration, die die Shoah, also den Massenmord an den Juden, mitzuverantworten hatte. „Die wirkliche Stunde Null begann erst mit dem Erscheinen von Pop, der eine zweite Befreiung in Gang setzte“, schreibt entsprechend der Pop-Denker Frank Apunkt Schneider.

Wolfgang Seidel, anfangs Schlagzeuger bei Ton Steine Scherben, spricht mit Blick auf die frühen Jahre seiner Band von einer neuen Musik von außen, die nötig gewesen sei, um Pop-Gemeinschaft auch im deutschsprachigen Raum zu ermöglichen. Die Songs „Tutti Frutti“ und „Blue Suede Shoes“ beschreibt er als „unsere musikalische Muttermilch“. Es sei „eine amerikanische Mutter“ gewesen. Trotzdem textet die Gruppe auf Deutsch. Das ist etwas Besonderes, was sich erst einmal behaupten muss. Im eingangs erwähnten „Musik ist eine Waffe“-Manifest heißt es dazu lapidar: „Unsere Lieder sind einfach, damit viele sie mitsingen können.“ Das schließt auch den Lehrling und die Schülerin ohne Englischkenntnisse mit ein.

Es lassen sich immer wieder Beispiele politischen Pops ausmachen. Auf die Pop-Initiation mit wildem Hüftschwung (Elvis, „the Pelvis“) und ungewohnten Frisuren (The Beatles) folgen aus der kulturellen Nische heraus Momente, die den Mainstream (zumindest zeitweilig) aus der Fassung bringen – auch weil sie politisch sind: Punk mit seiner konsequenten Anti-Haltung etwa oder der hedonistische Techno, der in Deutschland in der Loveparade gipfelt, die ursprünglich als politische Demonstration angemeldet wird. Das alles ist unter Pop I zu subsumieren.

Auf Pop I folgt unweigerlich Pop II, und um das Jahr 2000 herum ist es so weit. Die Loveparade hat sich längst von einer politischen Idee zu einer GmbH entwickelt. Die SPD erklärt Sigmar Gabriel zu ihrem Pop-Beauftragten. Musiker wie Heinz Rudolf Kunze setzen sich für eine Deutsch-Quote im Radio ein, dabei ist Deutschpop längst nicht mehr die wunderliche Ausnahme wie noch um 1970. Deutschpop kommt allerdings spätestens in den sogenannten Nullerjahren in Erklärungsnot, wenn es um die Frage nach seiner Politisierung geht. In den Charts wird Julis „Perfekte Welle“ und Mias „Hungriges Herz“ gelistet. Wenn Pop sich nun politisch gebärdet, dann häufig nicht mehr herrschaftskritisch wie noch in der Phase von Pop I. Er biedert sich in einer Zeit, in der die Elterngeneration von Ton Steine Scherben längst zur Großelterngeneration geworden ist, fast schon an. Andreas Bouranis „Auf uns“ wird etwa im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft 2014 zu einem Liebeslied an die Nation, die einst noch kritisiert wurde.

Vor diesem Hintergrund erlebt die Text-sorte Manifest eine gewisse Renaissance im Pop. Deutschsprachige Bands wie Tocotronic, Locas In Love und Ja, Panik verfassen Manifeste, die schon im Titel bedeutungsschwer klingen und scheinbar nichts von der naiven Leichtigkeit der Songtitel ihrer Zeitgenossen haben. Diese Manifeste heißen beispielsweise „Kapitulation“ (2006), „The Angst and the Money“ (2006) oder schlicht „Nein“ (2012). Die Popgruppen stellen die Verweigerung gegen den neoliberalen Konsens vor dem Hintergrund des unpolitischen Pop II schon im Titel prominent aus und müssen das, was zu Zeiten von Pop I selbstverständlich war, erst wieder klarstellen: eine emanzipatorische Grundhaltung.

Der Grundton der Texte ist oft eher manifestuntypisch schluffig. Nach einem kämpferischen Slogan wie „Musik ist eine Waffe“ sucht man in weiten Teilen vergebens. Statt Aktionismus tritt die Verweigerung ins Zentrum. „Kapitulation“, wie sie die Band Tocotronic proklamiert, klingt kaum wie eine Parole, taugt aber durchaus als Absage an Leistungszwänge – und historisch eben auch an den Faschismus. „Kapitulation – das schönste Wort in deutscher Sprache“, heißt es entsprechend. Wenn auch das aggressiv-bewaffnete Moment fehlt, das die Band Ton Steine Scherben 1970 noch betonte, so wird bei Tocotronic und Co. Musik doch zum Instrument der Politisierung: „Ein neues Lied. Ein neues Glück“, wie es schlicht im Finale ihres Manifests heißt.

Anna Seidel<address>© Sarah Hähnle</address>
Anna Seidel
© Sarah Hähnle
Anna Seidel ist Literaturwissenschaftlerin und Kulturpoetin an der Universität Innsbruck. Sie wurde Anfang 2021 an der WWU Münster mit ihrer Dissertation „Retroaktive Avantgarde. Manifeste des Diskurspop“ promoviert, die im Januar im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erscheint. Anna Seidel ist eine Autorin der von Kerstin Wilhelms und Immanuel Nover herausgegebenen Sonderausgabe der münsterschen Zeitschrift Textpraxis zur Frage nach dem Politischen im Pop. Die Zeitschrift kann unter folgendem Link gelesen werden: https://www.textpraxis.net/sonderausgabe-5

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 15. Dezember 2021.

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