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Münster (upm/vk)
Der Chanukka-Leuchter steht für das achttägige jüdische Lichterfest.<address>© shamash 4664437, Ri Butov on pixabay</address>
Der Chanukka-Leuchter steht für das achttägige jüdische Lichterfest.
© shamash 4664437, Ri Butov on pixabay

Zwischen Gleichstellung und Verfolgung

Festjahr 2021: 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Spätantike: Die Anfänge jüdischen Lebens in Deutschland

Gastbeitrag: Prof. Dr. Lutz Doering ist Inhaber des Lehrstuhls für Neues Testament und antikes Judentum an der Evangelisch-Theologischen Fakultät.

Prof. Dr. Lutz Doering<address>© privat</address>
Prof. Dr. Lutz Doering
© privat
Jüdinnen und Juden kamen in das Gebiet des heutigen Deutschlands mit den Römern. Nach Rom waren sie seit dem 2. Jh. v. Chr. gelangt: manche als Händler oder Handwerker, andere zunächst als Sklaven im Gefolge römischer Siege in Judäa unter Pompeius (63 v. Chr.), Titus (70 n. Chr.) und Hadrian (135/6 n. Chr.). Einige zogen weiter in die nordalpinen römischen Provinzen und damit an die Ränder des heutigen Deutschlands, in das die Provinzen Germania superior (mit Mainz), Germania inferior (mit Köln), Belgica (mit Trier) und Raetia (mit Augsburg) hineinragten. Das geschah vielleicht schon im ersten oder zweiten Jahrhundert (weil es den Römern nicht gelang, das rechtsrheinische Germanien zu kontrollieren, kamen Juden damals nicht ins Münsterland). Wenn wir in diesem Jahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern, reflektiert das nur den frühesten sicheren Beleg – das Edikt Kaiser Konstantins aus dem Jahr 321 an die Kölner Ratsherren (Codex Theodosianus 16,8,3): „Durch allgemeines Gesetz erlauben wir allen Stadträten, dass Juden in den Stadtrat berufen werden. Doch damit ihnen selbst etwas von der bisherigen Regelung als Trost verbleibe, lassen wir mit einem dauernden Privileg zu, dass je zwei oder drei von ihnen mit keinen Berufungen belastet werden.“ Den Ratsherren in Köln und anderswo wird erlaubt, Juden in den Rat zu berufen. Die Berufung in den Rat war eine äußerst kostspielige Angelegenheit, die nur den wohlhabendsten Bürgern möglich war. Als sich im 4. Jh. die wirtschaftliche Lage im Römischen Reich verschlechterte, schwand die Zahl derer, die dazu fähig und bereit waren. Deshalb griff man nun gern auf die Juden zurück. Für Köln heißt das: Es muss einige sehr wohlhabende jüdische Bürger gegeben haben, die auch über Grundbesitz verfügten. Dafür müssen Juden bereits geraume Zeit vor 321 in Köln gewohnt haben, und sie haben wohl – über die Vermögenden hinaus – eine größere, sozial differenzierte Gemeinde gebildet. Eine spätantike Synagoge hat man in Köln bislang nicht gefunden. An anderen Orten hat man jedoch einzelne Objekte des Alltags entdeckt, die als jüdisch identifizierbar sind. Öllampen aus Trier und aus Augsburg oder ein Fingerring aus Kaiseraugst auf der Schweizer Rheinseite, die jeweils mit der Menora – dem siebenarmigen Leuchter – dekoriert sind, legen nahe, dass Jüdinnen und Juden, die durch dieses Symbol ihre Zugehörigkeit zum Judentum ausdrückten, in der Spätantike an mehreren Orten im heute deutschsprachigen Raum lebten.

 

Mittelalter: „Buch der Erinnerungen“ als kollektives Gedächtnis

Gastbeitrag: Prof. Dr. Katrin Kogman-Appel hat die Professur für Jüdische Studien am Institut für Jüdische Studien inne.

Prof. Dr. Katrin Kogman-Appel<address>© WWU - Svenja Haas</address>
Prof. Dr. Katrin Kogman-Appel
© WWU - Svenja Haas
Wir wissen nicht viel über Eleazar ben Asher. Wir wissen nicht, wann er geboren wurde. Wir wissen nicht, wo oder wovon er lebte. Möglicherweise war er als Geschäftsmann tätig und gut in das Wirtschaftsleben des Rheinlandes integriert. Sein Vater war wahrscheinlich Asher ben Jakob, ein bekannter Gelehrter in Osnabrück, ein Nachkomme des berühmten Isaak ben Eleazar Halevi, der im 11. Jahrhundert in Worms gewirkt hatte. Allerdings, so nimmt die Forschung an, fiel er den antijüdischen Verfolgungen im Pestjahr (1348–1349) zum Opfer. Und doch wissen wir eine ganze Menge darüber, wie Eleazar die Geschichte seines Volkes wahrnahm. Während mindestens 16 Jahren verwandte er seine freie Zeit auf die Kopie verschiedener Schriften zur Geschichte Israels, die er gesammelt hatte. Diese, so Eleazars Plan, wollte er in ein großes Ganzes gießen und als geistiges Vermächtnis seinen neun Kinder vererben, die zwischen den Jahren 1325 und 1341 geboren wurden und deren Namen und Geburtsdaten sorgfältig in Eleazars Buch verzeichnet sind. Das Ergebnis seiner Bestrebungen, das er als „Buch der Erinnerungen“ bezeichnete, ist als relativ umfangreicher Kodex erhalten, der heute in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrt wird. Im Mittelpunkt stehen zunächst biblische Ereignisse der israelitischen Geschichte. Darüber hinaus trug Eleazar verschiedene Episoden, Traditionen und Berichte zusammen. Stück für Stück reihte er sie aneinander, kopierte sie sorgfältig, immer vorsichtig auf Chronologie bedacht: nachbiblische Geschichte; die römische Besatzung Judäas; die Zerstörung des Tempels, der Aufbau einer „neuen“ jüdischen Gesellschaft; die Schaffung neuer intellektueller Zentren; jüdisches Leben außerhalb Israels, im römischen Reich und darüber hinaus. Es folgt ein langes Kapitel, das die Verfolgungen im mittelalterlichen Reich und in Frankreich beschreibt und verschiedene Berichte dieser Ausschreitungen wiedergibt. Eleazar vermittelt den Eindruck, dass er direkt aus dieser Verfolgungssituation heraus wirkt. Tatsächlich hatte nur wenige Jahre, bevor er mit der Arbeit an dem Band begann, eine massive Welle von Verfolgungen stattgefunden (die sogenannten „Rintfleisch“-Verfolgungen in Franken) und während er noch mit seiner Tätigkeit beschäftigt war, fielen die Gemeinden Süddeutschlands und weiter Teile des Elsass den sogenannten „Armleder“-Erhebungen zum Opfer. Was auf die Verfolgungsberichte im „Buch der Erinnerungen“ folgt, ist eine nicht weniger ausführliche Beschreibung des messianischen Zeitalters, Trost in Zeiten der bitteren Erfahrung, und eine deutliche Botschaft, dass Gott sein Volk liebt, auch wenn er ihm schwierige Versuchungen auferlegt. Um das zu begreifen, – das scheint Eleazar uns vermitteln zu wollen –, muss man das kollektive Gedächtnis der jüdischen Geschichte bewahren und beschützen. Das Buch in Oxford war sein Beitrag zu dieser Verpflichtung.

 

Judentum an der Universität Münster: Minderheit inmitten von Katholiken

Gastbeitrag: Dr. Sabine Happ ist Leiterin des Universitätsarchivs. Sie war am Projekt „Flurgespräche“ zur Erinnerung an NS-Opfer an der Universität Münster beteiligt.

Dr. Sabine Happ<address>© WWU - Brigitte Heeke</address>
Dr. Sabine Happ
© WWU - Brigitte Heeke
Die Universität Münster und ihre Vorgängereinrichtungen waren über weite Strecken dezidiert katholische Anstalten. Ein Blick in die Matrikelbände zeigt seitenweise katholische Studenten. Evangelische Studenten waren die Ausnahme, jüdische noch mehr, Studentinnen durften sich erst ab 1908 immatrikulieren. Gleichwohl kann die erste Universität Münster, die seit 1773 Unterricht anbot, 1808 mit Joel Meyer aus Kleve einen jüdischen Chemiestudenten und ab 1815 mit Alexander Haindorf einen jüdischen Medizin- und Psychiatriedozenten aufweisen. Die Philosophisch-Theologische Lehranstalt, die der ersten Universität Münster 1818 nachfolgte, kümmerte sich stark um die Ausbildung des Priesternachwuchses und war damit für jüdische Studenten kein attraktiver Studienort. Mit dem Promotionsrecht und der Ausweisung als Akademie 1832 änderte sich das allmählich, wenn auch sehr langsam. Einen wesentlichen Schub brachte nicht nur im Hinblick auf jüdische Lehrende und Studierende 1902 die Erhebung der Akademie zur Universität, mit der die Einrichtung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen (1920), der Evangelisch-Theologischen (1914) und der Medizinischen Fakultät (1925) verbunden war. An letzterer gehörten die jüdischen Professoren Hermann Freund und Aurel von Szily zu den Gründungsdirektoren. Die Fakultät galt darüber hinaus als moderner Studien- und Lernort für Studierende gleich welcher Konfession. Mit der Umsetzung des Gesetzes zur Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen vom 25. April 1933, das den Anteil der „nichtarischen“ Studierenden auf 1,5 Prozent pro Fakultät festlegte, hatte die Universität Münster insofern kein Problem, als weniger jüdische Studierende immatrikuliert waren. Dieses Gesetz war jedoch nur ein Vorbote der Verfolgungsmaßnahmen, denen Studierende, Lehrende und andere Arbeitskräfte in der Folgezeit ausgesetzt waren. Heutige Studierende haben sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt und die Lebenswege der Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Münster recherchiert. Die Ergebnisse ihrer Forschungen sind auf www.flurgespraeche.de abrufbar. Nach 1945 wurde die Religionszugehörigkeit der Studierenden nicht mehr festgehalten. Bei Lehrenden und Mitarbeitern ist sie nur für die Kirchensteuer relevant. Das Judentum spielt an der Universität Münster aber insofern eine Rolle, als 1952 das Institutum Judaicum Delitzschianum neu gegründet wurde – das Vorläuferinstitut befand sich in Leipzig. 2015 kam das Institut für jüdische Studien hinzu.

 

Neuzeit: „Selbstverteidigung im vollen Lichte der Oeffentlichkeit“

Gastbeitrag: Prof. Dr. Regina Grundmann hat die Professur für Judaistik am Institut für Jüdische Studien inne.

Prof. Dr. Regina Grundmann<address>© Wilfried Gerharz</address>
Prof. Dr. Regina Grundmann
© Wilfried Gerharz
Die Verfassung des 1871 gegründeten deutschen Kaiserreichs schrieb die Aufhebung jeder rechtlichen oder staatsbürgerlichen Beschränkung für religiöse Minderheiten fest und bildete damit den formalen Abschluss des langwierigen Emanzipationsprozesses der jüdischen Minderheit, dessen Anfänge im späten 18. Jahrhundert liegen. Im Verlauf dieses Prozesses war in Deutschland ein akkulturiertes, gebildetes jüdisches Bürgertum entstanden, das die deutsche Sprache pflegte und sich mit der deutschen Kultur und Nation identifizierte. Parallel zu den Bemühungen um die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung formierte sich der Judenhass neu. Die Ideologie eines biologistisch-rassistischen Antisemitismus gewann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland und anderen europäischen Ländern zunehmend an Einfluss. Innerjüdisch führte dies zu sehr unterschiedlicher Formen gesellschaftlichen und politischen Engagements. So fand beispielsweise die zionistische Bewegung unter in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden wachsende Aufnahme. Eine grundlegend andere Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus stellt die Gründung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) 1893 dar. Der Verein verteidigte die staatsbürgerlichen Rechte der jüdischen Bürger, wobei er vom Ideal einer umfassenden deutsch-jüdischen Symbiose getragen war. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich der CV zur mitgliederstärksten jüdischen Organisation im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Gegen den Antisemitismus ging der Verein zum einen auf dem Rechtsweg vor, zum anderen mithilfe einer an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Publizistik. „Selbstverteidigung im vollen Lichte der Oeffentlichkeit“ war die Maxime, die Eugen Fuchs, Mitbegründer und Vordenker des Vereins, 1895 für die umfangreiche Abwehrarbeit des CV formuliert hatte. Die Strategien des CV zur Abwehr des Antisemitismus und zur Aufklärung über das Judentum änderten sich im Laufe der Zeit. So wurde in der Endphase der Weimarer Republik die Arbeit des CV ergänzt durch eine groß angelegte Kampagne gegen den Nationalsozialismus. Die Hoffnung, der nationalsozialistischen Propaganda mit sachlicher Information begegnen zu können, schwand mit der Errichtung der NS-Diktatur. Der Fokus des Vereins lag nun auf praktischen Hilfestellungen angesichts zunehmender Entrechtung und Enteignung sowie auf Auswanderungsberatung. Mit seiner erzwungenen Auflösung am 10. November 1938 endete die Tätigkeit des CV, dessen Geschichte die Tragik des jüdischen Bürgertums in Deutschland seit Beginn der Emanzipationszeit verdeutlicht: Galten dem CV die Teilhabe an der deutschen Kultur und die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft als höchste Ideale, war die Wirklichkeit in zunehmendem Maße von existenzieller Ausgrenzung bestimmt. Bereits im April 1933 konstatierte ein CV-Mitglied: „Die Emanzipation der deutschen Juden ist unvollendet abgebrochen.“

Projekt Spurensuche

Die Arbeitsstelle Forschungstransfer (AFO) der Universität Münster nimmt am Festjahr mit dem Projekt „Spurensuche_n: Jüdisches Leben im Münsterland“ der Expedition Münsterland teil. Dieses Projekt startete vor zehn Jahren mit dem Nachspüren von Orten, Geschichten und Schicksalen mit jüdischem Bezug in Münster und dem Münsterland. Einblicke in die Ergebnisse und damit in die regionale jüdische Kultur in Vergangenheit und Gegenwart werden der Öffentlichkeit im Festjahr 2021 im Rahmen von Filmvorführungen, Ausstellungen, Vorträgen und Touren im Münsterland präsentiert. Ob diese online, hybrid oder in Präsenz stattfinden, richtet sich nach den jeweils geltenden rechtlichen Corona-Vorschriften. Informationen tagesaktuell: www.uni-muenster.de/2021jimsl

2021: Deutsch-jüdisches Festjahr

Im Jahr 2021 leben nachweislich seit 1700 Jahren Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Für die Koordination und Gestaltung des bundesweiten deutsch-jüdischen Festjahres haben sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Institutionen zum Verein „321 - 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zusammengeschlossen. Bundesweit sollen Veranstaltungen jüdisches Leben sichtbar und erlebbar machen und ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen. Informationen: https://2021jlid.de/

Die Texte erschienen in der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, April 2021.

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