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Münster (upm/bhe)
Das Bild zeigt ein historisches Gemälde von der Disputation Martin Luthers mit Johannes Eck.<address>© Wikimedia Commons</address>
Die Disputation Martin Luthers mit Johannes Eck: In Disputationen und Religionsgesprächen der Reformation wurden (religiöse) Gegensätze nicht mehr aufzulösen versucht, sondern demonstriert und verstärkt (Lichtdruck des 1945 zerstörten Gemäldes von Julius Hübner)
© Wikimedia Commons

Schlagabtausch als Kulturtechnik

Von der Disputation bis zum Social-Media-Konflikt: Neues Forschungsprojekt über den Wandel der Debatte

Leben wir in einer „Welt der Lüge“, wie es die "Süddeutsche Zeitung" jüngst in einem Kommentar über die politische Kommunikation von Donald Trump beklagte? Wer in die Sozialen Netzwerke schaut, könnte angesichts verbaler Entgleisungen, unsachlicher Beiträge oder der Leugnung wissenschaftlich belegter Fakten tatsächlich diesen Eindruck gewinnen. Solche Entwicklungen nimmt eine neue geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungsinitiative an der WWU in den Blick. Neben den aktuellen Folgen der Digitalisierung richten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihren Blick auch auf vergangene Epochen. Sie untersuchen sowohl die Entwicklung in europäischen wie in nicht-europäischen Gesellschaften, beispielsweise im arabischen Raum oder in Afrika. „Debattenkulturen im Medienwandel“ heißt das Vorhaben, das das Rektorat als „Topical Program“ fördert.

Das Themenspektrum reicht von der Ausbildung akademischer und öffentlicher Praktiken des Debattierens in der Vormoderne über den Dialog arabischer Zeitschriften mit ihren Lesern im 19. Jahrhundert bis zur Rolle der modernen Kunst, bestehende Normen in Frage zu stellen und so öffentliche Debatten zu entfachen. „Von einer einheitlichen Öffentlichkeit oder Debattenkultur kann man nicht sprechen“, sagt Antragstellerin Dr. Barbara Winckler vom Institut für Arabistik und Islamwissenschaft. Es gebe sowohl Parallel- als auch „Unteröffentlichkeiten“. Das Vorhaben widmet sich in erster Linie dem „Wie“ von Diskussionen im Zusammenhang mit dem, was sie gesellschaftlich auslösen.

Kunsthistorikerin Prof. Dr. Ursula Frohne nennt als Beispiel das „Büro für direkte Demokratie“ von Joseph Beuys. „Der Künstler führte darin auf der Kasseler ,documenta 5‘ Debatten mit Besuchern der Ausstellung. Auf diese Weise hat er demokratische Prozesse mit künstlerischen Mitteln in Gang gesetzt.“ Eine solche Erweiterung des Kunstbegriffs und die Debatte als Format sei heute mehr denn je ein Thema in der Kunst.

Mitunter wird das Neue nicht nur als willkommene Abwechslung oder Fortschritt wahrgenommen, sondern zunächst als Gefahr. Mit jeder neuen Medientechnik befürchteten Kritiker eine Entwertung bestehender Medien und Kommunikationspraktiken – der Buchdruck werde beispielsweise die Handschrift verdrängen, der Rundfunk könne die Menschen vom Lesen abhalten, rasch zusammengeschnittene Videoclips im Internet die Filmkunst zerstören. Mumpitz, findet Barbara Winckler: „Es gab immer ein Nebeneinander der verschiedenen Medien.“ Insofern gehe es darum, die dynamischen Wechselwirkungen zwischen neuen und bestehenden Medien in den Blick zu nehmen. Eine solch kommunikations- und medienwissenschaftliche Perspektive vertritt die Mitantragsstellerin und Kommunikationswissenschaftlerin Prof. Dr. Annie Waldherr, die mittlerweile an der Universität Wien arbeitet.

„Wenn wir danach fragen, wie sich Prozesse des Medienwandels auf soziale und kulturelle Grundlagen von Debatten auswirken, dann hat dies immer auch eine selbstreflexive Dimension“, betont der Historiker Dr. Philip Hoffmann-Rehnitz. Er verweist auf aktuelle Diskussionen über den Wandel von Debattenkulturen an den Universitäten. Auch in der Wissenschaft sehe man allerlei vermeintliche Gefährdungen eines offenen Austauschs durch das Vordringen der neuen Medien. Vor die eigentlichen Forschungen haben die beteiligten Wissenschaftler die Begriffsdefinition gestellt. „Wir haben einen Vorschlag gemacht, die Debatte als spezifische Kulturtechnik zu definieren“, erläutert Philip Hoffmann-Rehnitz. Dazu zähle unter anderem in gleicher Gewichtung die Reziprozität (also die Gegenseitigkeit des Austauschs), die Rolle von Argumenten und die Anerkennung der an einer Debatte beteiligten Personen.

International und interdisziplinär

Die „Topical Programs“ der WWU sollen eine längerfristige Forschung anstoßen. Für weitere Förderungen der „Debattenkulturen im Medienwandel“ spricht nach Ansicht der Initiative ihre ausgeprägte Interdisziplinarität. Es geht auch darum, neue Formen und Wege des Austauschs zwischen den unterschiedlichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern zu suchen. Bislang sind über 20 Wissenschaftler aus vier Fachbereichen der Universität Münster sowie von anderen Universitäten aus dem In- und Ausland beteiligt, etwa aus Brasilien und Israel, unter anderem aus der Theologie, der Kommunikationswissenschaft, der Soziologie, Politologie, Ethnologie, Geschichte und aus der Literaturwissenschaft. Hinzu kommen externe Kooperationen, zum Beispiel mit dem LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster. Der Forschungsgegenstand eignet sich zudem gut für den Dialog mit der Öffentlichkeit und für öffentliche Veranstaltungen, vor allem die visuellen und auditiven Aspekte.

Barbara Winckler verweist auf die Rolle von Graffitis, die im ‚Arabischen Frühling‘ oder während der jüngsten libanesischen Proteste immer wieder überschrieben und übermalt wurden. „Es gab darin viele Verweise auf die westliche Populärkultur, etwa den Joker als Bildmotiv.“ Sie nimmt zudem Gegenwartsliteratur in den Blick. „Gesellschaften führen Nachkriegsdebatten häufig nicht offen“, sagt die Wissenschaftlerin. „Im politischen Diskurs des Libanon hat beispielsweise eine wirkliche Aufarbeitung des Bürgerkriegs nie stattgefunden. Diese Aufgabe haben stattdessen Literatur und Kunst übernommen.“

Das Projekt kann auf bestehende Strukturen an der WWU aufbauen, vor allem auf das smartNETWORK. In dem interdisziplinären Zusammenschluss der geistes- und sozialwissenschaftlichen Graduiertenschulen haben einige der Beteiligten bereits zu „Öffentlichkeiten und Debattenkulturen“ geforscht, der gleichnamige Tagungsband erscheint in diesem Jahr. Ihr Forschungsgegenstand ließe sich gut in einer öffentlichen Ausstellung zeigen, davon sind die Initiatoren überzeugt. Insbesondere würden sie sich natürlich wiederum über eins freuen: über lebhafte Debatten mit den Besuchern.

Autorin: Brigitte Heeke

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 27. Januar 2021.

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