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Münster (upm/hd)
Seelsorge kann bei der Verarbeitung im kirchlichen Kontext erlittener Traumata helfen, sie aber auch behindern.<address>© Rudy and Peter Skitteriansa, pixabay</address>
Seelsorge kann bei der Verarbeitung im kirchlichen Kontext erlittener Traumata helfen, sie aber auch behindern.
© Rudy and Peter Skitteriansa, pixabay

"Gewalt ist eine Realität überall auf der Welt"

Theologe Dr. Andreas Stahl über die Traumasensible Seelsorge als Werkzeug, Opfer von Missbrauch zu unterstützen

Über sich selbst sagt Dr. Andreas Stahl, dass zwei Herzen in seiner Brust schlagen: Die Begeisterung für die praktische Gemeindearbeit als Pfarrer in Ausbildung und die für die akademische Forschung. Letztere hat der Theologe vor nicht allzu langer Zeit eindrücklich nachgewiesen: Seine Doktorarbeit zum Thema "Traumasensible Seelsorge – Grundlinien für die Arbeit mit Gewaltbetroffenen" wurde an der Universität Münster mit summa-cum-laude ausgezeichnet. Heute wendet er die Erkenntnisse seiner Forschung im Arbeitsalltag an. Im Interview mit Hanna Dieckmann sprach Andreas Stahl unter anderem über die Versäumnisse der Kirchen in Bezug auf die internen Missbrauchsfälle und die Auswirkungen auf Betroffene. Ein zentrales Anliegen ist ihm, ein Bewusstsein gleichermaßen für die Chancen und die Gefahren zu schaffen, die die Seelsorge-Arbeit mit traumatisierten Menschen birgt.

Zahlreiche Missbrauchsskandale haben in den vergangenen Jahren die christlichen Kirchen in Deutschland erschüttert. Hat Sie diese mangelnde Bereitschaft zur Aufarbeitung dazu bewogen, Ihre Doktorarbeit zum Umgang mit von Gewalt betroffenen Menschen in der Seelsorge zu schreiben?
Die Idee, mich intensiver mit traumasensibler Seelsorge zu beschäftigen, entstand schon zu einem früheren Zeitpunkt im Studium. Ich habe unter anderem in Hong Kong studiert, dort hat mich eine Kommilitonin in eine Gemeinde indonesischer Hausangestellter mitgenommen. Diese gesellschaftliche Subkultur hat mich unheimlich fasziniert. In den sehr asymmetrischen Beziehungs- und Abhängigkeitsmodellen dort spielte häusliche Gewalt leider eine große Rolle.

Ihre Forschung bezieht sich also nicht nur auf Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in der Kirche?
Nein, nicht ausschließlich. Ich habe in Südafrika und Israel sowie in Deutschland in München, Erlangen und als Doktorand in Münster studiert: Dabei ist in mir das Bewusstsein gewachsen, dass Gewalt eine Realität überall auf der Welt ist, innerhalb und außerhalb der Kirche – auch in Deutschland. Und Menschen leiden oft lange unter den Auswirkungen.

Menschen in Notlagen und Lebenskrisen können zur Seelsorge gehen. Bereits im Neuen Testament finden sich Nachweise, die sich als Vorbilder für die heutige christliche Seelsorge deuten lassen. Es gibt sie also schon seit Beginn unserer Zeitrechnung. Wieso war es wichtig, dieses Konzept einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen und neue Gedanken zu entwickeln?
Seelsorge ist für Menschen im besten Fall Trost, Hilfe und Unterstützung. Weil wir aber in einer sich ständig wandelnden Welt leben, muss Seelsorge lernfähig sein. Die Traumaforschung kann wichtige Impulse geben, um traumatisierte Menschen besser zu verstehen. In meiner Doktorarbeit frage ich danach, welche Ressourcen es gibt, um Menschen, die Gewalt erfahren haben, zu unterstützen. Welche Rolle können Spiritualität, Glaube und Seelsorge dabei spielen? Entscheidend war die Erkenntnis, dass diese Faktoren sich sowohl positiv auf den Prozess der Verarbeitung auswirken, ihn aber auch behindern können. Daher habe ich in meiner Arbeit einen Akzent auf die Traumasensibilität gelegt.

Was bedeutet das?
Zum einen sollten Seelsorger kompetent sein, Traumata zu erkennen. Und im nächsten Schritt sollten sie dazu bereit sein, ihre Arbeit daran anzupassen. Denn es steht eine entscheidende Frage im Raum: Wie blickt jemand, der traumatische Gewalt erlebt hat, auf Fragen des Glaubens oder der Spiritualität? Vor allem dann, wenn diese Person Gewalt innerhalb der Kirche erfahren hat. Traumatische Erlebnisse ändern den Blick auf das Leben und die Welt oft sehr fundamental.

Gibt es weitere Aspekte, die für die Traumasensibilität eine Rolle spielen?
Seelsorger sollten aus Sicht der Betroffenen, also aus der Trauma-Perspektive, auf Themen der christlichen Theologie blicken. Ein gutes Beispiel ist, wie im christlichen Kontext über Vergebung gesprochen wird. Der Begriff der Vergebung wird normalerweise positiv konnotiert. Aber wenn man Betroffene danach fragt, empfinden sie das dahinterliegende Konzept oft als belastend. Ich würde sogar sagen, die Rede über Vergebung kann eine Form von Gewalt sein, wenn sie bei Betroffenen einen "Vergebungsdruck" aufbaut. Zudem kann das Konzept der Vergebung von Institutionen als Instrument missbraucht werden, um sich selbst zu entlasten. Das passiert auf Kosten der Betroffenen, obwohl sie als Opfer nicht in der Bringschuld sein sollten. Und so kann etwas, das das Potenzial hat, positiv und heilsam zu wirken, zu einer großen Belastung werden.

Dass Betroffene nach traumatischen Erlebnissen mit ihrem Glauben hadern, ist verständlich. Wie gehen Sie in der Seelsorge mit Menschen um, die der Kirche und der Religion kritisch und vielleicht sogar unversöhnlich gegenüberstehen. Ist ein Ziel der Seelsorge, die Menschen wieder zum Glauben zu bringen?
Die Seelsorge ist als Teil der Kirche nicht der Verkündigung zugeordnet. Das bedeutet, dass es eben nicht darum geht, religiöse Werte und Ansichten zu vermitteln oder die Menschen wieder christlich zu verorten. Es findet keine Mission statt.

Es ist also egal, ob ich oder an was ich glaube?
Ja, dieses Angebot ist unabhängig von der Weltanschauung. Seelsorge ist gelungen, wenn einem Menschen geholfen wird. Es geht nicht darum, dass dieser Mensch am Ende christliche Grundsätze für sich bejaht. Ich habe bis heute Kontakt zu Menschen, die Missbrauch in der Kirche erlebt haben. Ich empfinde es sogar als gesunde Reaktion, die Kirche oder den Glauben daraufhin abzulehnen. Das kann ich völlig nachvollziehen und alleine aus diesem Grund sehe ich es schon nicht als meine Aufgabe, jemanden "zurückzuholen".

Aber könnte irgendeine Art der Versöhnung nicht auch heilsam sein, um persönlichen Frieden zu finden?
Es kann ein Nebeneffekt sein, dass eine Person sich der Kirche wieder annähert, aber es ist nicht das Ziel. Es kann im Gegenteil sogar passieren, dass die Person einen klaren Strich ziehen möchte, um sich selbst zu schützen, damit Wunden nicht immer wieder aufgerissen werden. Ich unterstütze Menschen dabei, Wege zu finden, die ihnen ganz persönlich helfen – das ist bei jedem unterschiedlich. Wenn es für den einen oder die andere der klare Bruch mit der Kirche ist, dann unterstütze ich das. Ich möchte die Betroffenen auf ihrem individuellen Weg bestärken, für sich eine Klarheit und Sprachfähigkeit zu finden.

Wie haben sich die zahlreichen Gespräche über Gewalterfahrungen auf Sie persönlich ausgewirkt?
Im Laufe meines Studiums habe ich, im übertragenen Sinn, mein persönliches theologisches Gebäude gebaut – mit einem soliden Fundament. Aber natürlich erschütterten meine Recherchen und die Auseinandersetzung mit den Themen Gewalt und Missbrauch dieses "Gebäude". Daraus resultierte ein massiver Perspektivwechsel. Ich habe zu dieser Zeit vieles neu durchdacht.

Sie befanden sich damals in einer Glaubenskrise?
Nein, die Doktorarbeit hat meinen Blick auf theologische Fragen und meine Prämissen verändert. Aber diese Erschütterungen haben letztendlich zu einer Vertiefung meines Glaubens geführt. Als Christ möchte ich Dinge tiefergehend verstehen. Um es am Beispiel der Vergebung zu erklären: Ich sage nicht, dass dieses Konzept Unsinn ist, aber ich sehe es jetzt von beiden Seiten. Ich sehe die Potenziale, aber auch die Gefahren. Dadurch bin ich näher an die Realität der Menschen gerückt, die Gewalt erfahren haben und sich in Seelsorge begeben. Ich habe durch die Beschäftigung mit menschlichem Leid nicht meinen Glauben verloren, sie hat aber zu Zweifeln geführt. Und die sind auch nötig, um den Glauben zu vertiefen.

Bekommen Sie durch Ihren progressiven Ansatz und der darin liegenden Kritik des Bestehenden Gegenwind aus der Kirche?
Nicht direkt. Meine Beobachtung ist, dass diejenigen, die solche Themen vom Tisch haben wollen, nicht offen widersprechen. Es ist eher so, dass man kaum Unterstützung bekommt, ich nehme eine große institutionelle Trägheit wahr. Wobei es in den unterschiedlichen Kirchen auch tolle Leute gibt, Kritik soll da nicht die falschen treffen. Allerdings gibt auf meinem Forschungsgebiet keine Stiftungen oder Lehrstühle – deshalb stelle ich mir die Frage, wie in Zukunft überhaupt weitergeforscht werden soll. Der Kreis der Menschen, die sich damit beschäftigen, ist nicht besonders groß, wir sind so etwas wie Pioniere.

In einer Institution, die auf Traditionen Wert legt...
Ja, dieses Festhalten an den alten Strukturen ist nicht immer hilfreich. Wenn ich daran denke, dass die Kirchen Betroffenen von sexuellem Missbrauch immer wieder angemessene Entschädigungen verwehren – also solche, die die lebenslangen Folgen berücksichtigen –, schmerzt mich das sehr. Selbst, wenn man es nüchtern betrachtet: Der Preis für den Vertrauensverlust ist ungleich höher, das kann man monetär niemals aufwiegen.

Wie gehen Sie damit um, dass die Auseinandersetzung mit Zweifeln zur Berufsbeschreibung gehört?
Die verschiedenen negativen Eindrücke überwiegen bei mir aus einem einfachen Grund nicht: Ich bin – ökonomisch ausgedrückt – weiterhin von der Qualität des Produkts, also vom Glauben, sehr überzeugt. Die Vermarktung ist allerdings tatsächlich häufig eine Katastrophe (lacht).

Was folgt für Sie aus diesem Zwiespalt?
Zum einen, dass wir uns in einer Phase befinden, in der Reformen überfällig sind. Zum anderen aber auch, dass das Produkt so gut und wichtig ist, dass es trotz Krisen nicht verschwinden wird. Dem Menschen wohnt eine Offenheit für das Transzendente inne, wir werden immer auf der Suche nach Orientierung, Sinn oder Spiritualität sein. Die christliche Religion muss nicht für jeden die Antwort sein, aber wenn man in die Historie schaut, zeigt sich doch, dass Religionen diese Ansätze vermitteln konnten und können.

Sie sprachen von institutioneller Trägheit, aber auch von der menschlichen Sinnsuche: Ist sich die Kirche zu sicher, dass die Menschen Gott, und damit der Kirche, treu bleiben?
Mein Eindruck ist, dass die Kirchenleute, die restriktiv agieren, dem Geld und Strukturen mehr zutrauen als dem christlichen Glauben. Es gibt hohe Rücklagen und viele Immobilien, das hemmt Reformbewegungen mehr als die Sicherheit, dass der Mensch auch in Zukunft nach Gott fragen wird. Wenn letzteres die oberste Prämisse wäre, dann würde sich das im Verhalten widerspiegeln. Zum Beispiel in Bezug auf die Missbrauchsfälle: Dann wäre da eine Überzeugung, dass wir den Menschen Rechenschaft schuldig sind. Zu wissen, dass Menschen offen sind für Fragen nach Sinn und Religion, dürfte dann nicht zu Selbstzufriedenheit führen. Die Kirchen könnten in der Gesellschaft eine so konstruktive Rolle spielen. Sie tun es leider oft nicht, wo der Fokus auf materielle Selbsterhaltung gerichtet ist.

War diese institutionelle Trägheit und fehlende Unterstützung der Grund, warum Sie sich gegen die akademische Karriere und für die Ausbildung zum Pfarrer entschieden haben?
Es gab und gibt selbstverständlich auch Personen, die meine Forschung unterstützen. Traugott Roser, mein Doktorvater und Professor für Praktische Theologie an der WWU, wollte zum Beispiel, dass ich weitermache. Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust: Einerseits liegen mir meine Forschungsthemen sehr am Herzen. Ich habe das Gefühl, nach drei Jahren intensiver Auseinandersetzung immer noch erst am Anfang zu sein. Denn in Deutschland ist der Bereich "Traumasensible Seelsorge" bislang kaum erforscht.

Und andererseits?
… kann ich als Geistlicher die Dinge, mit denen ich mich so lange theoretisch auseinandergesetzt habe, praktisch umsetzen. Denn eins möchte ich trotz meiner Affinität zu Theorie und Forschung nicht vergessen: Es geht immer um Individuen und ihre persönlichen Geschichten.

Autorin: Hanna Dieckmann

Dieses Interview stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 11. November 2020.

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