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Bildnis des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel aus dem Jahr 1831<address>© Quelle: Jacob Schlesinger / Public domain</address>
Bildnis des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel aus dem Jahr 1831
© Quelle: Jacob Schlesinger / Public domain

"Nur wenige Werke belohnen geduldige Leser so sehr"

Philosoph Michael Quante über Georg Friedrich Hegel, dessen Geburtstag sich zum 250. Mal jährt

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831), deutscher Philosoph und wichtigster Vertreter des Idealismus, wäre am 27. August 250 Jahre alt geworden. Er gilt bis heute als überaus aktuell. Warum das so ist, wollte Juliane Albrecht von WWU-Philosoph Prof. Dr. Michael Quante wissen.

Was fasziniert Sie als Hegel-Forscher bis heute an seinem Werk?

Hegels Texte gehören zu den komplexesten Werken der Philosophie. Karl Marx spricht von einer grotesken Felsenmelodie in Hegels Schriften, Walter Benjamin ängstigt sich vor der Eiswüste der Abstraktionen. Solche Texte zu entschlüsseln, hat mich seit Anbeginn meines Studiums fasziniert. Nur wenige Werke belohnen geduldige Leser so sehr mit systematischen Einsichten und Realitätssinn gleichermaßen.

Welche Merkmale seiner Philosophie erklären seine breite und nachhaltige Wirkung?

Hegel hat vermutlich als erster die philosophische Bedeutung historischen Wandels erfasst und damit einen zentralen Aspekt modernen Denkens zum Ausdruck gebracht. Er hat zudem die wissenschaftlichen Wissensbestände seiner Zeit philosophisch rezipiert und so eine unendliche Fülle an Material aufbereitet. Deshalb wird er für viele andere geisteswissenschaftliche Disziplinen attraktiv.

Worin besteht Ihrer Auffassung nach die Aktualität Hegels?

Für mich weist Hegels Denken an zwei Stellen systematische Aktualität auf: Zum einen setzt seine Analyse des Selbstbewusstseins bis heute Maßstäbe für unsere eigenen Konzeptionen. Zum anderen hat er das menschliche Personsein als genuin soziale Lebensform verstanden; er entschlüsselt sie als Geflecht von Anerkennungsbeziehungen und sozialen Praxen des Miteinanders. In einer zunehmend komplexeren Welt liefert er uns damit komplexe Zugänge zu unserer kulturellen Lebensform, die geistige Phänomene nicht auf bloße Hirnereignisse oder blinde Systemfunktionen reduzieren. Hegel hat geistige Phänomene in ihrer ganzen Bandbreite und den Menschen immer auch als leibliches Wesen im Blick. Er erteilt Modellen, die den Mensch aus geschichtsloser Vernunft und einer Körpermaschine zusammenbauen, eine Absage. Damit ist er in unseren interdisziplinären Debatten, etwa in den Lebenswissenschaften, wichtig.

Michael Quante<address>© Foto: P. Wattendorff</address>
Michael Quante
© Foto: P. Wattendorff
Was vermuten Sie: Was hätte Hegel als Philosoph zur Corona-Pandemie gesagt?

Von einem Philosophen, dessen Geburtstag 250 Jahre zurückliegt, darf man nicht verlangen, auf alle aktuellen Fragen eine Antwort oder für alle unsere drängenden Probleme eine Lösung bereit zu halten. Hegel hielt nicht viel davon, dass sich Philosophen als praktische Ratgeber einmischen. Die Philosophie sollte vielmehr dabei helfen – dafür hat er das Bild der Eule der Minerva bemüht – im Nachhinein historische Prozesse zu verstehen. Die jetzige Pandemie hätte er wohl als Bestätigung für zwei seiner Grundannahmen angesehen. Erstens belegt diese ‚Naturkatastrophe in Zeitlupe‘ die Störanfälligkeit unserer Umwelt, von der und in der wir Menschen leben. Für Hegel gehört diese Fragilität zu den unaufhebbaren Voraussetzungen der menschlichen Lebensform. Wir können versuchen, durch technische Beherrschung oder Anpassung in dieser Welt gut zu leben. Ob dies jedoch gelingt, liegt niemals vollständig in unserer Macht. Zweitens hat Hegel darauf hingewiesen, dass Staaten durch äußere Katastrophen immer bedroht sind und sich davor nur begrenzt schützen können. Wir sehen gerade, wie zutreffend diese Diagnose ist. Wir können durch Hegels Analyse aber auch begreifen, warum vernünftig gestaltete soziale und politische Institutionen, verbunden mit Bildung und Wissen der Bürger sowie dem Verantwortungsbewusstsein der handelnden Personen, helfen, solche Krisen besser zu überstehen. Damit hat er bis heute Recht behalten.

Dieses Interview stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 15. Juli 2020.

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