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Münster (upm/nor)
Die Wissenschaftler aus Münster und Bielefeld betonen, dass Aufmerksamkeit und Vertrauen gegenüber jugendlichen Straftätern oft effektiver seien als harte Verurteilungen.<address>© Papaioannou Kostas - Unsplash</address>
Die Wissenschaftler aus Münster und Bielefeld betonen, dass Aufmerksamkeit und Vertrauen gegenüber jugendlichen Straftätern oft effektiver seien als harte Verurteilungen.
© Papaioannou Kostas - Unsplash

Aufmerksamkeit und Vertrauen sind besonders wirksam gegen Jugendkriminalität

Wissenschaftler legen Ergebnisse der Langzeitstudie "Kriminalität in der modernen Stadt" vor

Soziale Benachteiligungen, familiäre Gewalt, ein schlechtes Schulklima oder der Konsum von Gewaltmedien wie beispielsweise Filme und Computerspiele haben zwar keine oder kaum eine direkte Wirkung auf ein mögliches straffälliges Verhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Allerdings haben diese Faktoren häufig zur Folge, dass die betroffenen Jugendlichen die Begehung von Gewalttaten als harmlos ansehen und ihre Zeit mit entsprechend auffälligen Freunden verbringen – dies wiederum steht in einem deutlichen Zusammenhang mit der Begehung von Straftaten. Das sind zwei der wichtigsten Ergebnisse der Langzeitstudie "Kriminalität in der modernen Stadt" unter der Leitung des Kriminologen Prof. Dr. Klaus Boers (Westfälische Wilhelms-Universität Münster, WWU) und des Soziologen Prof. Dr. Jost Reinecke (Universität Bielefeld). Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über knapp 20 Jahre geförderte Untersuchung ist in Deutschland die einzige und international eine der wenigen Langzeituntersuchungen, die delinquentes Verhalten vom späten Kindes- bis ins frühe Erwachsenenalter in den Blick nimmt. Die Studie unterscheidet sich von bisherigen Untersuchungen vor allem dadurch, dass einmalige Befragungen lediglich Momentaufnahmen lieferten, aber nichts über die Entwicklung der Kriminalität aussagten.

Prof. Dr. Klaus Boers (l.), Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften der WWU, und Prof. Dr. Jost Reinecke, Soziologe an der Universität Bielefeld, arbeiteten knapp 20 Jahre an der Studie über Jugendkriminalität.<address>© Privat</address>
Prof. Dr. Klaus Boers (l.), Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften der WWU, und Prof. Dr. Jost Reinecke, Soziologe an der Universität Bielefeld, arbeiteten knapp 20 Jahre an der Studie über Jugendkriminalität.
© Privat
Von 2002 bis 2019 befragten die Wissenschaftler in Duisburg rund 3.000 Personen zwischen dem 13. und 30. Lebensjahr zunächst jedes Jahr und später alle zwei Jahre nach selbst begangenen Delikten (Täterbefragung) sowie nach Einstellungen, Werten und Lebensstilen. Die Wissenschaftler bekamen dadurch Einblicke in das Dunkelfeld der Kriminalität, indem die jungen Menschen über Straftaten berichteten, die in keiner offiziellen Statistik auftauchen. Zusätzlich werteten sie (Hellfeld-) Daten über Verurteilungen und Verfahrenseinstellungen aus. Die Angaben und Daten der Studie beziehen sich ausschließlich auf Duisburg – die Wissenschaftler sind aber davon überzeugt, dass sich viele Ergebnisse auch auf andere deutsche Großstädte übertragen lassen.

Die wesentlichen Ergebnisse im Überblick:

Gelegentliche Diebstahls- oder einfache Gewaltdelikte sind vom späten Kindes- bis zum mittleren Jugendalter vor allem unter Jungen (bis zu 28 bzw. 25 Prozent), aber auch unter Mädchen (bis zu 22 bzw. 14 Prozent) nicht ungewöhnlich. Allerdings werden ab dem Ende des Jugendalters die allermeisten Jugendlichen nicht mehr straffällig, wobei dies für Mädchen früher als für Jungen gilt. "Dieser starke Rückgang der Jugendkriminalität ist normal und ein Erfolg einer regulär verlaufenden Erziehung und Sozialisation", betont Klaus Boers. "Mit zugewandten und aufmerksamen Eltern und Lehrern, unter Freunden und in Vereinen regelt sich das meiste von selbst."

Die Jugendlichen würden soziale Normen vor allem dann akzeptieren, wenn die Gesellschaft pädagogisch angemessen auf Regelverletzungen reagiere. Deshalb sei es begrüßenswert und sinnvoll, dass das Jugendstrafrecht es den Staatsanwaltschaften und Gerichten ermögliche, sich gegenüber den erzieherischen Bemühungen von Eltern, Lehrern und anderen Gruppen zurückzuhalten und auf die vorübergehenden Delikte Jugendlicher mit Verfahrenseinstellungen zu reagieren. Das sei ein Grund, warum seit den 2000er Jahren die Kriminalität von Jugendlichen und Heranwachsenden insgesamt um ein Drittel, die Gewaltkriminalität sogar um die Hälfte zurückgegangen ist. "Eine sogenannte ,Null-Toleranz-Strategie', also die Verurteilung von leichten, ersten Straftaten, würde solchen positiven Entwicklungen entgegenwirken", unterstreicht Jost Reinecke.

Problematisch ist eine kleine Gruppe von Intensivtätern. Sie machen fünf bis acht Prozent ihrer jeweiligen Altersgruppe aus und begehen die Hälfte aller Delikte sowie drei Viertel der Gewalttaten ihrer Altersgruppe. Intensivtäter sind vor allem während der Jugendjahre aktiv, zum allergrößten Teil beenden aber auch sie zum Ende des Jugendalters ihr delinquentes Verhalten. Auch führt eine frühe Intensivtäterschaft nicht unbedingt zu einer anhaltenden delinquenten Entwicklung: Immerhin die Hälfte der im späten Kindesalter intensiv Auffälligen begeht schon in den folgenden Jugendjahren deutlich weniger Straftaten. Diese auch international bestätigten Befunde stützen die These, dass präventive Maßnahmen und Behandlungsprogramme auch Intensivtäter zur Umkehr bewegen können.

Besonders hilfreich seien gute, auf Aufmerksamkeit und Vertrauen gestützte Beziehungen zwischen Schülern, Lehrern, Familienangehörigen und Freunden. Der in der Regel glimpflich verlaufende Kontakt mit der Polizei oder Justiz hätte dagegen nur selten eine unmittelbare Wirkung auf das weitere Verhalten der Jugendlichen. Bei drastischeren Maßnahmen könne der Zusammenhalt von delinquenten Cliquen und deren Einstellungen verstärkt werden. Und wer der Justiz bekannt sei, habe – unabhängig vom tatsächlichen Ausmaß seiner weiteren Taten – ein höheres Risiko, erneut kontrolliert zu werden.

Migrantenjugendliche* begehen der Studie zufolge nicht mehr Diebstähle als Jugendliche deutscher Herkunft. Mädchen türkischer Herkunft – zu dieser Gruppe verfügten die Wissenschaftler in Duisburg über eine gute Datenlage – fallen zudem bei allen Straftaten seltener auf als deutsche Mädchen. In den 1990er Jahren begingen männliche Migrantenjugendliche allerdings deutlich mehr Gewaltdelikte, sie fielen auch häufiger als Intensivtäter auf. In Duisburg konnten in den 2000er Jahren jedoch erstmals keine gravierenden Unterschiede zwischen männlichen Jugendlichen deutscher und türkischer sowie osteuropäischer Herkunft mehr festgestellt werden. Dies ließ sich vor allem auf eine in der dritten Einwanderergeneration erfolgreiche Integration in das Bildungssystem zurückführen. Im Übrigen weisen Jugendliche deutscher Herkunft mit vergleichbaren sozialen Defiziten ähnliche Gewaltraten wie Jugendliche türkischer Herkunft auf.

Fazit: Selbst problematische Täter hören häufig spätestens als Heranwachsende damit auf, Straftaten und vor allem Gewalttaten zu begehen. Diese positive Entwicklung kann mit pädagogischen Maßnahmen sowie angemessenen polizeilichen und justiziellen Reaktionen gefördert werden. Es besteht eine gute Chance, auch nach dem Jugendalter positive Bindungen und Einstellungen aufzubauen.

* Migrantenjugendliche: Nachkommen der Arbeitsmigranten; nicht seit den 2010er Jahren Geflüchtete.

Buch:

Boers, Klaus & Reinecke, Jost (Hrsg.). 2019. Delinquenz im Altersverlauf. Erkenntnisse der Langzeitstudie Kriminalität in der modernen Stadt. Münster: Waxmann-Verlag

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