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Münster (upm/sr)
Die Zahl der Kriegsüberlebenden mit posttraumatischen Erkrankungen ist groß (Stockfoto).<address>© Ben White/Unsplash</address>
Die Zahl der Kriegsüberlebenden mit posttraumatischen Erkrankungen ist groß (Stockfoto).
© Ben White/Unsplash

Millionen von Kriegsüberlebenden leiden weltweit an psychischen Erkrankungen

Psychologen der Universität Münster schätzen die Häufigkeit der posttraumatischen Belastungsstörung und Depression nach Kriegen in der Gesamtbevölkerung

Kriege hinterlassen Spuren bei Menschen – die körperlichen Schäden sind meist offensichtlich, doch die Narben, die ein Krieg in der Psyche von Überlebenden zurücklassen kann, bleiben häufig unter der Oberfläche. Psychologen der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) haben zum ersten Mal die absoluten Zahlen geschätzt, die zeigen, wie viele Kriegsüberlebende weltweit an einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression leiden. Das Ergebnis: Im Jahr 2015 waren es etwa 1,45 Milliarden Menschen, die zwischen 1989 und 2015 einen Krieg im eigenen Land erlebt hatten, etwa eine Milliarde davon war erwachsen – das entspricht jedem Fünften der Weltbevölkerung. Schätzungsweise mehr als 350 Millionen von ihnen litten an einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression, davon ungefähr ein Drittel sogar an beiden psychischen Störungen.

Darüber hinaus zeigen die Analysen, dass die meisten Kriegsüberlebenden in Niedriglohnländern leben, in denen es nur begrenzte Möglichkeiten gibt, psychische Störungen intensiv und flächendeckend zu behandeln. „Mit unserem Ansatz können wir die aktuelle Lage hinsichtlich der Krankheitslast psychischer Störungen in kriegsgeschädigten Gebieten besser bewerten“, sagt Thole Hoppen, Doktorand in der Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie der WWU. „Unsere Ergebnisse zeigen ein großes Problem auf. Wir hoffen, ein Stück weit dazu anregen zu können, praktikable Lösungen zur Behandlung zu finden“, erklärt der Erstautor der Arbeit weiter. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „European Journal of Psychotraumatology“ erschienen.

Hintergrund und Methode:

Weltkarte mit Ländern und Regionen, in denen mindestens ein Krieg zwischen 1989 und 2015 stattgefunden hat (blau markiert). (Erstellt aus https://www.amcharts.com/visited_countries/#)<address>© T. Hoppen & M. Morina</address>
Weltkarte mit Ländern und Regionen, in denen mindestens ein Krieg zwischen 1989 und 2015 stattgefunden hat (blau markiert). (Erstellt aus https://www.amcharts.com/visited_countries/#)
© T. Hoppen & M. Morina
Die Psychologen legten ihren Fokus auf zwei schwere psychische Störungen, die häufig nach Kriegserlebnissen auftreten können: die posttraumatische Belastungsstörung und die Depression. In einem ersten Teil der Untersuchung nutzten die Wissenschaftler zum einen Informationen der Uppsala-Konflikt-Datenbank (UCDP), einem Projekt, in dem Daten militärischer Konflikte seit 1946 erhoben und gesammelt werden – dazu zählen unter anderem die Anzahl der Konflikte pro Jahr, die beteiligten Länder, die Anzahl der Todesfälle oder die geografische Verteilung der Todesfälle innerhalb eines Landes. Zu den aus dieser Statistik erhobenen Daten nahmen die Psychologen allgemeine Bevölkerungsdaten der Vereinten Nationen (UN) hinzu. So konnten sie am Ende schätzen, wie viele Menschen weltweit im Jahr 2015 gelebt hatten, die innerhalb der vorangegangenen 26 Jahre einem Krieg im eigenen Land ausgesetzt gewesen waren. Die Stichjahre 1989 und 2015 waren der verfügbaren Datenlage der UCDP und UN geschuldet.

In einem weiteren Schritt führten sie eine sogenannte Metaanalyse durch – dazu fassten sie die Daten von allen verfügbaren Studien, die die Verbreitung der posttraumatischen Belastungsstörung beziehungsweise Depression dokumentierten, aus allen betroffenen Ländern und Regionen im untersuchten Zeitraum neu zusammen. Anders als in vorherigen Studien, in denen das Augenmerk explizit auf bestimmte Personengruppen gelegt wurde, zum Beispiel auf Soldaten oder Geflüchtete, untersuchten die Psychologen nun die Gesamtbevölkerung und stellten nur Daten zusammen, die aus zufälligen Stichproben der Allgemeinbevölkerung entstanden waren. So konnten sie die Ergebnisse der Metaanalyse statistisch hochrechnen. Hierzu nutzten sie ebenfalls allgemeine Bevölkerungsdaten der UN. Das Ergebnis der Schätzung: Im Jahr 2015 erfüllten 354 Millionen erwachsene Kriegsüberlebende die diagnostischen Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression. Davon litten mehr als 117 Millionen sogar an einer Komorbidität, also an beiden Krankheiten gleichzeitig.

Die Ergebnisse geben eine erste Schätzung wieder, müssen jedoch mit Vorsicht betrachtet werden. „Aufgrund der dünnen epidemiologischen Befundlage sind unsere Ergebnisse vorübergehend und bedürfen weiterer empirischer Überprüfung“, erläutern Thole Hoppen und sein Doktorvater Nexhmedin Morina. Seit der Veröffentlichung der Ergebnisse beschäftigen sich die beiden Forscher damit, ihre Daten mit allgemeinen Gesundheitsdaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) abzugleichen. In den jährlich veröffentlichten „Globalen Gesundheitsschätzungen“ der WHO sind unter anderem Schätzungen enthalten, wie viele Einwohner eines jeweiligen Landes beispielsweise an Depressionen oder Angststörungen leiden. Der Datenabgleich legt offen, dass die WHO-Schätzungen zu Traumafolgestörungen wie eben Depressionen oder der posttraumatischen Belastungsstörung im Jahr 2015 um ein Vielfaches kleiner waren als die Schätzungen der WWU-Wissenschaftler. Um diese neuen Ergebnisse zu publizieren, haben die Forscher bereits ein entsprechendes Manuskript in einer anderen Fachzeitschrift eingereicht.

Förderung:

Die Studie erhielt finanzielle Unterstützung durch das „Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences“ (NIAS).

Originalpublikation:

T. H. Hoppen & N. Morina (2019). The prevalence of PTDS and major depression in the global population of adult war survivors: a meta-analytically informed estimate in absolute numbers. European Journal of Psychotraumatology; DOI: 10.1080/20008198.2019.1578637

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