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Münster (upm/jh)
Dr. Jan Schmidt<address>© Sabine Schneider</address>
Dr. Jan Schmidt
© Sabine Schneider

70 Jahre Grundgesetz - fünf Perspektiven

Wissenschaftler, Beschäftigte und Studierende schildern, welcher Artikel für sie besonders wichtig ist

Es ist die Grundlage unseres Staates und unseres Zusammenlebens: das Grundgesetz. Vor 70 Jahren brachte es Deutschland die demokratische Ordnung. Heute ist es genauso bedeutend wie damals. In der Unizeitung wissen|leben schildern Wissenschaftler, Beschäftigte und Studierende der WWU aus diesem Anlass, welcher Grundgesetz-Artikel für sie besonders wichtig ist.

Dr. Jan Schmidt, Graduate Center:

Von besonderer Bedeutung ist für mich der Anfang der Präambel: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...“ Mit diesem „Gottesbezug“ habe ich mich im Rahmen meiner Dissertation beschäftigt: Darf das Grundgesetz Bezug auf „Gott“ nehmen? Mir ist eine Auslegung wichtig: Der Bezug auf „Gott“ ist kein Bekenntnis und legt uns auch nicht auf eine Religion fest. Aber er führt vor Augen, dass die Menschen nicht das Maß aller Dinge sind. Nach der Nazi-Herrschaft war dies ein wichtiger Aspekt bei der Formulierung der Präambel. Es gibt Grenzen des Handelns, die wir beachten müssen, als Einzelne und als Staat. Und darauf verweist der Gottesbezug.

 

Jun.-Prof. Dr. Isabel Heinemann<address>© Dorothea Rietz</address>
Jun.-Prof. Dr. Isabel Heinemann
© Dorothea Rietz
Jun.-Prof. Dr. Isabel Heinemann, Historisches Seminar:

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Für mich als Zeithistorikerin stellt Artikel 3, Absatz 2 einen besonderen Meilenstein dar. Durchgesetzt von einer der wenigen „Mütter“ des Grundgesetzes, der SPD-Politikerin Elisabeth Selbert, steht dieser Satz wie kaum ein anderer für historischen Wandel: Er erforderte massive Gesetzesänderungen, und noch 1994 verpflichtete ein Zusatz den Staat auf den konsequenten Abbau von Nachteilen. Flankiert wird er vom allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Absatz 1) und dem Verbot der Diskriminierung unter anderem aufgrund von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Herkunft und Glauben (Absatz 3). Letzteres zieht eine deutliche Grenze zur Exklusionspolitik des Nationalsozialismus und verbietet seit 1994 auch die Diskriminierung aufgrund von Behinderung – erneut eine Anerkennung gesellschaftlichen Wandels.

 

 

 

 

Dr. Maja Malik<address>© WWU - Susanne Lüdeling</address>
Dr. Maja Malik
© WWU - Susanne Lüdeling
Dr. Maja Malik, Institut für Kommunikationswissenschaft:

Als Kommunikationswissenschaftlerin liegt mir natürlich Artikel 5 besonders am Herzen. Dass alle Menschen ihre Meinung frei äußern und sich frei informieren können und dass Medien einem besonderen Schutz unterliegen, ist unerlässlich für unsere Demokratie. Diese Freiheiten werden zurzeit immer wieder angegriffen, wenn Journalisten bedroht und Medien als „Lügenpresse“ verunglimpft werden. Gleichzeitig ist es nicht immer leicht, die Meinungsfreiheit auch denjenigen zuzugestehen, die unsere Grundwerte und die Menschenwürde anderer massiv angreifen. Umso mehr brauchen wir den öffentlichen Diskurs und Medien, die belastbare Informationen dafür bereitstellen.

 

 

 

 

 

Prof. Dr. Traugott Roser<address>© WWU - Benedikt Weischer</address>
Prof. Dr. Traugott Roser
© WWU - Benedikt Weischer
Prof. Dr. Traugott Roser, Evangelisch-Theologische Fakultät:

Nach den Erfahrungen mit totalitären Regimes in Deutschland kann Artikel 4 als fundamentales Schutzrecht gar nicht hoch genug geschätzt werden. In Zeiten weltweit wiedererwachter mörderischer Gewalt bei der Feier von Gottesdiensten kommt der Selbstverpflichtung des Staates zum Schutz der freien Religionsausübung neuerlich Bedeutung für Sicherheit und eine Kultur der Toleranz zu. Für mich als Theologen und Seelsorger hat Artikel 4 auch konkrete Bedeutung. Alle Menschen müssen die Möglichkeit haben, ihren Glauben zu praktizieren. Dort, wo Menschen sich nicht frei bewegen können, etwa im Gefängnis oder im Krankenhaus, ist Seelsorgern Zugang zu gewähren. Durch neue Datenschutz-Vorschriften erhalten Geistliche jedoch oft keine Auskunft mehr, ob sich Angehörige ihrer Gemeinde unter den Patienten oder Insassen befinden. Damit wird den Betroffenen ihre Religionsausübung erschwert.

Dankbar bin ich dem Grundgesetz, dass es daran erinnert, dass auch von Seiten der Religionsgemeinschaft kein Zwang ausgeübt werden darf. Das Ziel von Seelsorge und Religionsunterricht ist stattdessen die Förderung informierter Freiheit in Glaubensdingen. Damit setzt Artikel 4 die Unantastbarkeit der Würde des Menschen aus Artikel 1 um, eben in Angelegenheiten des Glaubens und des Gewissens.

 

Anna Holeck und Nikolaus Ehbrecht<address>© AStA</address>
Anna Holeck und Nikolaus Ehbrecht
© AStA
Anna Holeck und Nikolaus Ehbrecht, AStA-Vorsitzende:

Als Vertreter der verfassten Studierendenschaft gefällt uns natürlich Artikel 9 – alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden – am besten! Vereine sind das Rückgrat der Gesellschaft. In Vereinen engagieren sich zahlreiche Ehrenamtliche, die großartige Arbeit leisten. Für jedes noch so kleine gesellschaftliche Problem gibt es Vereine (dafür gerne einen Blick in die Liste der Hochschulgruppen werfen). Für unsere Gesellschaft ist das enorm wichtig. So ist sichergestellt, dass jede und jeder eine Anlaufstelle hat und ihre oder seine Interessen irgendwo vertreten sieht. Es ist also wohl das Mindeste, dass Vereine einen eigenen Grundgesetz-Artikel bekommen.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 8. Mai 2019.

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