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Interview

“Was von der Kolonialzeit bleibt? Alles.”

Interview mit Heikki Pihlajamäki über die Kolonialrechte der Frühen Neuzeit

Prof. Dr. Heikki Pihlajamäki
© khk

Mit den Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, die weite Lebensbereiche der Menschen rechtlich zu regeln versuchten, hat sich gerade die deutschsprachige Forschung seit den 1970er Jahren ausgiebig beschäftigt. Den Interpretationsrahmen bildeten dabei zumeist der entstehende vormoderne Fürstenstaat und Konzepte wie Sozialdisziplinierung oder Absolutismus. Doch wie sah dies in einem völlig anderen Kontext aus, in den Überseekolonien der europäischen Mächte, wo europäisches auf indigenes Recht traf? Mit dieser Frage beschäftigt sich der finnische Rechtshistoriker Heikki Pihlajamäki. Gemeinsam mit einem kleinen Team vergleicht er die koloniale Polizeigesetzgebung Spaniens, Portugals, Englands und der Niederlande.

Herr Professor Pihlajamäki, wie haben Sie Ihr Fellowship hier in Münster erlebt?

Wunderbar! Es war wirklich großartig. Alles war perfekt organisiert, und die Kombination aus gemeinsamen Aktivitäten und eigenen Freiheiten, was beides sehr wichtig ist, war ideal. Und natürlich ist das Umfeld, die Stadt und alles andere, einfach perfekt.

Sprechen wir über Ihr Forschungsprojekt. Sie vergleichen systematisch das Kolonialrecht Englands, der Niederlande, Spaniens und Portugals untereinander und gehen sogar einen Schritt weiter, indem Sie die anderer Reiche wie Schweden, dem Heiligen Römischen Reich und Russland mit einbeziehen. Wie gehen Sie mit einer so großen Anzahl von Quellen um?

Zunächst einmal bilden die „anderen“ eher den Kontext meiner Untersuchung auf der Grundlage von Literatur. Denn ich bin überzeugt, dass alles immer in einem Kontext stehen sollte. Natürlich ist nicht alles für dieses Projekt relevant, wie zum Beispiel das Osmanische oder das Chinesische Reich.

Weil sie zu unterschiedlich sind?

Teilweise ja, denn man kann den Begriff "kolonial" durchaus nur auf europäische Reiche beziehen. Aber auch, weil es keine klare Verbindung gibt. Zumindest vermute ich das zu diesem Zeitpunkt.  Man trifft immer eine Auswahl, und ich hätte statt dieser vier Reiche ebenso vier andere wählen können. Die Gemeinsamkeit zwischen ihnen ist allerdings, dass alle maritime Imperien sind. Wir sind ein Team von vier, fünf Forschenden, mehr nicht. Innerhalb dieser Gruppe untersuche ich Spanien. Um die Anzahl der Quellen überschaubar zu halten, konzentrieren wir uns auf das Statutenrecht und innerhalb dessen auf die sogenannten Policeyordnungen.

Im Palacio Nacional in Mexiko-Stadt hatte die Real Audiencia von Mexico ihren Sitz, eines der höchsten Gerichte im spanischen Kolonialreich.
© JOMA-MAC, Palacio Nacional 2012-09-29 22-45-57, CC BY-SA 3.0

Beginnen wir mit einer grundlegenden Frage: Für welche Menschen galt das Kolonialrecht und welche Lebensbereiche wurden dadurch geregelt?

Das ist eine sehr gute Frage. Über das ganze Konzept lässt sich streiten, aber so wie ich es sehe, gibt es in allen Kolonien stets mindestens zwei Gruppen: die europäischstämmige Bevölkerung – europäischstämmig, weil sie im 18. Jahrhundert vielleicht seit zweihundert Jahren mit ihren Familien dort gelebt haben – und die indigene Bevölkerung. Für die Europäer gilt immer das Kolonialrecht, das in dieser Hinsicht ein Konglomerat verschiedener Normativitäten ist. Im Grunde genommen handelt es sich um das gleiche Recht wie in Europa. Im Falle Spaniens ist es das spanische Recht, das sich wiederum aus verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt. Es besteht aus dem ius commune, dem kastilischen Recht und dem religiösen kanonischen Recht, die alle auch in den spanischen Kolonien gelten. Dazu kommt die für uns interessante Sonderverwaltung, der polizeiliche Teil, alle Arten von kleinen Gesetzesregelungen, die für die Kolonien – manchmal gültig für alle, manchmal nur für einige wenige – von Spanien aus erlassen werden, aber mithilfe des Consejo de Indias (Indienrat), dem wichtigsten Verwaltungsorgan, der für die kolonialen Angelegenheiten zuständig ist. Und es gibt auch Gesetze, die von den Kolonien selbst ausgehen, von den Vizekönigen, den hohen Gerichten, den Regierungen und den Stadtregierungen. Es gibt unglaublich viel verschiedenes, das auf unterschiedlichen Ebenen erlassen wird. Wir betrachten daher die lokale Ebene und prüfen, wie die unterschiedlichen Rechtsquellen miteinander interagieren.

Haben die spanischen Kolonien ihre eigenen Gerichte oder hat die Metropole immer das letzte Wort?

Nein, sie haben ein eigenes Gerichtssystem mit Berufungsgerichten, und es ist theoretisch möglich, in Zivilsachen beim Consejo de Indias in Sevilla in Spanien Berufung einzulegen, der das höchste Gerichtsorgan ist. In der Praxis geschieht dies jedoch nur selten, und die Angelegenheiten werden innerhalb der Kolonien entschieden und geregelt.

Für die indigene Bevölkerung gelten prinzipiell die gleichen Rechtsvorschriften, aber darüber hinaus haben sie noch ihr eigenes Gewohnheitsrecht, das interessanterweise von allen vier Kolonialmächten, einschließlich England, als Rechtsgrundlage anerkannt wird. Die Art und Weise, wie diese Gesetze gehandhabt wurden, entspricht der gleichen Lehre des Gewohnheitsrechts wie in Europa, denn das war natürlich kein neues Problem. Als sich das römische Recht ab dem 12. Jahrhundert in Europa immer mehr durchsetzte, stolperten die Juristen häufig über das Problem des Gewohnheitsrechts und entwickelten schließlich eine Theorie, die die Zulässigkeit dieser Gesetze bestimmte. Sie mussten akzeptabel sein und durften nicht gegen das römische oder natürliche Recht verstoßen. Es waren also Juristen, die die Gesetze in ihren Gerichten überprüften. Später wurden die indigenen Rechte wie herkömmliche europäische Gewohnheitsrechte behandelt. Und im Laufe der Jahrhunderte geschah mit ihnen das Gleiche: Sie verloren den Kampf gegen das moderne positive Recht.

Also gab es schon in der Kolonialzeit ein Nebeneinander von indigenem und Kolonialrecht?

Im spanischen Reich hatte auch die indigene Bevölkerung ihr eigenes Gerichtssystem. Es deckte nicht alle Teile der Kolonien ab, und oft landeten die Menschen auch vor spanischen Gerichten, wodurch sie lernten, die spanischen Gesetze für sich zu nutzen. Sie waren nicht immer Opfer des spanischen Rechts, sondern nutzten es bisweilen geschickt und effektiv.

Das andere Extrem sind die Niederlande. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts fanden sie in Niederländisch-Ostindien, ungefähr dem heutigen Indonesien, eine ganz andere Situation vor. Hier herrschte ein wahrer Rechtspluralismus, viel mehr noch als dort, wo die Spanier mit ihren Schiffen ankamen. In Indonesien hatten die Chinesen bereits ein Rechtssystem entwickelt, ebenso verfügten die Hindus über ein eigenes System, es gab Muslime und die indigene Bevölkerung mit ihrem gewohnheitsrechtlichen Adat-System. Die Niederländer versuchten erst gar nicht, es den Spaniern gleichzutun. Zunächst wandten sie ihre Gesetze nur auf ihre eigene Bevölkerung an, die im Wesentlichen die Arbeitskräfte der VOC (Niederländische Ostindien-Kompanie) und die Menschen in den Städten einschloss. Sie nahmen eine viel praktischere Haltung dazu ein, weil es sich für sie tatsächlich um ein Geschäft handelte.

Batavia, Hauptquartier der Niederländischen Ostindien-Kompanie und Hauptstadt Niederländisch-Indiens. Abbildung von 1681.
© Wikimedia Commons

Ich kann mir vorstellen, dass in den Kolonien ganz andere Bedingungen herrschen als in den Metropolen. Gibt es rechtliche Fragen, die sich aufgrund der Besonderheiten des kolonialen Umfelds entwickelt haben?  

Zumindest werden Angelegenheiten, die in den Kolonien von größerer Bedeutung sind, anders gewichtet. Der Bergbau beispielsweise wird in den spanischen und portugiesischen Kolonien zu einem großen Regulierungsbereich. In Bezug auf Policeyordnungen ist es schwer, Bereiche zu finden, die zuvor überhaupt noch nicht bedacht wurden, weil es sich letztlich um Gemeinschaftsrecht handelt.

Aus Sicht der Kolonien ist der König weit weg, jenseits des Ozeans. Hatten die spanischen Bürger hier mehr Freiheiten, was die polizeirechtlichen Vorschriften betrifft?

Ich würde das nicht als Freiheit bezeichnen. Die Gesetze zu machen, ist Sache der Städte. Es ist ein typisches Merkmal von Polizeyordnungen, dass sie nicht nur von oben nach unten, sondern auch an der Basis erlassen werden. In diesem Sinne ließe sich sagen, dass die lokale Autonomie ein wenig stärker ist, weil ein Großteil der Vorschriften aus den verschiedenen lokalen oder regionalen Ebenen stammt.

Sie haben bereits die Unterschiede zwischen den vier Kolonialmächten angedeutet und an anderer Stelle sprechen Sie von unterschiedlichen Interessen, die diese verfolgten. Welche Interessen waren das und inwieweit wirkten sich diese auf ihre Rechtssysteme aus?

Unterschiedliche Interessen oder einfach: unterschiedliche Realitäten. Nehmen wir die Bevölkerungszahlen in Europa im Jahr 1500. In Portugal lebt eine Million Menschen. 50 Jahre später hat England drei Millionen Einwohner, die Niederlande 1,25 Millionen. Diese winzigen imperialen Nationen mit einer Million Menschen erobern die ganze Welt. In Spanien hingegen lebten fast acht Millionen Menschen, also wesentlich mehr. Es ist also durchaus verständlich, dass die Spanier schon früh auf die Idee kamen, weitere Ländereien einzunehmen. Aber nicht einmal Spanien konnte sich vorstellen, ganz Mittelamerika zu erobern. Das wäre unmöglich gewesen – und unnötig. Also brachten sie bestimmte Gebiete unter ihre Kontrolle und sicherten die Zuwege zu diesen Orten. Ihr Recht galt für alle, die dort lebten, mit einigen Ausnahmen wie dem Gewohnheitsrecht. Das ist also ein großer Unterschied zu kleineren Ländern wie Portugal und den Niederlanden, die dazu nie in der Lage gewesen wären. Sie sicherten lediglich die Handelsrouten, mehr nicht. Ihre Gesetze galten nur für ihre eigenen Bürger und sie kümmerten sich nicht wirklich um die anderen Bewohner. Dies änderte sich jedoch gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als Portugal auch immer mehr Land kontrollierte, zum Beispiel in Brasilien, und die Niederlande ihren Einfluss in Indonesien von der Hauptstadt Jakarta auf größere Gebiete ausdehnten. Die VOC begann, wie ein echter Staat zu agieren. Deshalb sagte ich zuvor, dass diese Unterschiede recht relativ sind; es ist eine etwas grobe Unterteilung in Reiche, die an der Kontrolle ihrer Ländereien, und solche, die an der Sicherung von Handelswegen interessiert sind. Das ist nicht falsch, aber wir sollten bedenken, dass wir über einen Zeitraum von 300 Jahren sprechen.

Spielen die unterschiedlichen konfessionellen Ausrichtungen – Spanien und Portugal sind katholisch, England und die Niederlande protestantisch – dabei eine Rolle?

Das ist eine sehr gute Frage. Ich habe versucht, dies für die Niederlande zu herauszufinden, bin aber noch nicht ans Ende meiner Forschungen angelangt. Ich würde gerne sagen, dass es einen Unterschied gab, aber bisher konnte ich nichts dazu in Erfahrung bringen. Ich habe in der theologischen Ethik nach Antworten gesucht, weil ich erwartete, dass diese Frage dort behandelt wird. Jedoch habe ich bei den niederländischen Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts keinen einzigen Satz über die Kolonien gefunden.

In einem Ihrer Artikel sprechen Sie von Globalisierung und Verwestlichung des Rechts. Was meinen Sie damit?

Ich denke, es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Globalisierung im Grunde Verwestlichung bedeutet. Die einzigen Rechtsordnungen, die man auf globaler Ebene zu verbreiten versucht hat und die darin bis zu einem gewissen Grad erfolgreich waren, sind die westlichen. Und es ist keine Änderung in Sicht. Es ist unvorstellbar, dass das chinesische Recht jemals in Europa Einzug halten würde, auch wenn es vielleicht kulturell eine große Veränderung geben könnte – was ich jedoch auch nicht sehe. Oder nehmen wir das islamische Recht, das von der Religion abhängt. Solange wir dieser Religion nicht angehören, gilt auch kein islamisches Recht.

Wenn wir also von einer echten Globalisierung sprechen, dann kann es sich nur um eine Verwestlichung handeln. Und dafür gibt es zwei Erklärungen: Die offensichtliche hat mit reiner Gewalt und Kolonialisierung zu tun. Aber die andere ist, dass das Rechtssystem des „Common Law“ und das kontinentale Rechtssystem einen entscheidenden Vorteil haben, nämlich dass sie heute völlig losgelöst von Religion sind. Und das schon seit der Aufklärung. Es sind also völlig religionsneutrale Systeme, weshalb sie sich leicht exportieren lassen. Jeder Mensch kann das westliche Vertragsrecht übernehmen, ohne sich aus religiöser Sicht zu etwas verpflichten zu müssen.

Was bleibt von der Kolonialzeit übrig? Gibt es heute noch Gesetze aus dieser Zeit?

Beginnen wir mit Spanien und Portugal. Was von der Kolonialzeit bleibt? Die Antwort ist ziemlich einfach: alles. Was in Europa mit dem frühmodernen Recht im 19. Jahrhundert geschah – Staaten gaben sich Verfassungen und die Gesetze änderten sich entsprechend –, all diese Entwicklungen fanden im Grunde genommen ebenso in den spanischen und portugiesischen Kolonien statt. Sie haben also ihre koloniale Vergangenheit in ein modernes Rechtssystem umgewandelt, das dem europäischen zu diesem Zeitpunkt sehr ähnlich war. Das indigene Gewohnheitsrecht war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bereits mehr oder weniger verschwunden, ähnlich wie das Gewohnheitsrecht in Europa seit dem Mittelalter.

Lässt sich das wirklich vergleichen? Immerhin gibt es auch heute noch viele indigene Gruppen, die für die Anerkennung ihrer traditionellen Rechte kämpfen.

Das ist richtig. Natürlich gibt es viele Gruppen, zum Beispiel in Mexiko, und ich will damit nicht sagen, dass diese nicht wichtig sind und dass von ihrer Rechtskultur nichts mehr übrig ist. Aber die traurige Wahrheit ist, dass das Gewohnheitsrecht nur einen kleinen Teil des Lebens der indigenen Bevölkerung betrifft. Alles andere stammt aus der kolonialen europäischen Vergangenheit. Wir brauchen gar nicht so weit zu schauen. In Finnland leben die einzigen in Europa verbliebenen Ureinwohner, die Samen. Auch sie kämpfen für ihre Fischerei- oder Landbesitzrechte. Und sie haben sogar schon einige Prozesse gewonnen. Aber selbst wenn sie weiterhin mit ihren Klagen Erfolg haben, was ich sehr befürworte, wie groß wäre dann der Anteil ihres Lebens in Lappland, der durch ihre Gewohnheitsrechte bestimmt würde? Wer nicht fischt oder Rentiere hält, lebt zufrieden und ausschließlich nach finnischem Recht.

Wenn ich Sie also richtig verstehe, behielten die meisten der ehemaligen Kolonien die alten Gesetze bei, weil sie sich in der Zwischenzeit in ein modernes Rechtssystem gewandelt hatten?

Ja. Auch hier unterschieden sich die niederländischen Kolonien grundlegend, denn selbst im 19. Jahrhundert gab es hier keine Unabhängigkeitsbewegung. Aber es gab eine Verfassungsbewegung und der niederländische Staat übernahm die Kolonien im Jahr 1800 von der VOC. Aber auch danach verfolgte er eine sehr bewusste Politik des Rechtspluralismus und versuchte nicht einmal, die gesamte Kolonie rechtlich zu vereinheitlichen. Das pluralistische System durfte weiterexistieren, was dazu führte, dass vom niederländischen Recht im heutigen Indonesien nur noch wenig zu finden ist.

Die Fragen stellte Lennart Pieper.

Über den Autor

Prof. Dr. Heikki Pihlajamäki ist Professor für vergleichende Rechtsgeschichte an der Universität Helsinki und war von August bis Dezember 2022 Fellow am Kolleg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verfahrensrecht, Strafrecht, Rechtsquellen, Kolonialrecht und dem Anwaltsberuf.