Vereinheitlichungsanspruch ohne Machtmonopol (2025/26)
Historisch gesehen fand die Rechtsbildung, aber auch die Ausdifferenzierung von Gerichtsbarkeit über lange Phasen ohne ein ausgeprägtes herrschaftliches Machtmonopol statt, das sich erst sukzessive im Zuge von Staatsbildungsprozessen herausbildete, aber gerade durch territoriale Expansionsprozesse immer wieder neue Formen der Begrenzung erfuhr. Damit fehlte es zwar nicht an Machtbeziehungen (etwa im Kontext von Familienstrukturen, als Effekt ungleich verteilter ökonomischer Ressourcen oder mit Blick auf Geschlechterbeziehungen), doch waren diese nicht in der Weise organisiert, dass sie die Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung zentralisiert hätten organisieren können. Gleichwohl sind Vereinheitlichungsbemühungen zu allen Zeiten auszumachen – angestoßen und durchgesetzt wurden sie aber gerade nicht notwendigerweise durch Macht- und Herrschaftsmittel. Zu denken ist hier etwa an Formen der Vereinheitlichung durch Verwissenschaftlichung (z.B. Verbreitung des römischen Rechts in Europa über die universitäre Juristenausbildung), durch zwanglose Formen des legal transplant (z.B. im Fall der freiwilligen Übernahme von Policeyordnungen innerhalb von Städtenetzwerken oder Reichskreisen im Alten Reich) oder schlicht durch die regelmäßige Nachfrage von Gerichten als Angebotsstrukturen der Konfliktlösung (empowering interactions). Eine solche ‚freiwillige‘ Nachfrage war allerdings keineswegs beliebig, vielmehr spielten auch hier unterschiedliche Machtbeziehungen eine Rolle, etwa für die Frage, welche Foren von wem und in welchen Fällen angerufen wurden oder auch werden konnten. Mit diesen Machtbeziehungen ist zudem die Frage aufgeworfen, welche Gruppen von bestimmten Formen der Rechtsvereinheitlichung profitieren und wer von Formen der Rechtsvielfalt. In der Regel lassen sich eben gerade keine generalisierenden Aussagen zu komplexen gesellschaftlichen Konstellationen treffen, weil die Antwort in Abhängigkeit vom Beobachtungsstandpunkt variiert: So können etwa indigene Gruppen, die sich gegen hegemoniale Rechtsvereinheitlichung z.B. auf das internationale Recht berufen, von Formen der Rechtspluralisierung etwa mit Blick auf Möglichkeiten der Landnutzung durchaus profitieren, während Frauen oder Minderheiten in diesen Gruppen dadurch gegebenenfalls zugleich rechtlich schlechter gestellt werden.
Vereinheitlichung als Nachfrageeffekt kann man auch im Fall von Rechtsnormen beobachten, deren Anwendung durch die jeweiligen Gerichte lange Zeit gerade nicht herrschaftlich durchgesetzt werden konnte (zumal, wenn es sich etwa um korporativ organisierte Gerichte handelte). So konnte das mittelalterliche Oberhofwesen vergleichsweise stabile Rechtskreise schaffen, indem sog. Mutterstädte ihr ius fori den Antworten auf Anfragen ihrer Tochterstädte zugrunde legten. Mit politischen Herrschaftsansprüchen oder Territorialgrenzen hatte dies nie etwas zu tun und war doch eine Möglichkeit, regionale Rechtseinheit anzustreben. Durch die Übersetzung gewohnheitsrechtlicher Quellen etwa in slawische Sprachen ließen sich auf diese Weise sogar ethnische Grenzen überwinden. Voraussetzung für ein solches Recht war freilich ein Mindestmaß an Freiwilligkeit. Brach dieser Konsens zusammen, waren überregional einheitliche Rechtsstrukturen kaum denkbar (so etwa beim Niedergang der Feme im späten 15. Jahrhundert). Ohnehin erweisen sich staatszentrierte Rechtsvorstellungen im geschichtlichen Rückblick oft als wenig zeitgerecht. Recht ohne Herrschaft bzw. ohne Machtmonopol darf im historischen Vergleich also nicht untergehen, und auch die Grenzbereiche zwischen Recht und anderen Formen von Normativität sind im Blick zu behalten. Es hat sich als wichtig erwiesen, Fragen von Einheit und Vielfalt gerade nicht nur im Kontext von Staatsbildungsprozessen zu untersuchen, sondern auch übergreifender anzusetzen und viel offener nach situativ anzutreffenden Mustern und Konstellationen von Machbeziehungen und ihren Effekten für Formen der Rechtsvereinheitlichung oder aber der Organisation von Vielfalt im Recht zu fragen. Die in der ersten Phase des Kollegs begonnenen Überlegungen über diese Zusammenhänge werden wir in der zweiten Förderphase ausweiten und vertiefen.
Zudem ist mit Blick auf Herrschaftsstrukturen der Vergangenheit wie auch der Gegenwart zu betonen, dass die Diskussion um Einheitsansprüche bereits bei der Frage ansetzt, über welche Gruppen und Räume Herrschaftsträger ihren jeweiligen Herrschaftsanspruch behauptet und durchgesetzt haben. Der Inhalt von Recht und die jeweilige räumliche Ausdehnung von Herrschaftsbereichen waren über lange Zeiten nicht deckungsgleich. Rechtsbildung durch Gewohnheit und überregionale Gerichte konnte einerseits zu vergleichsweise einheitlichem Recht oberhalb kleinräumiger Hoheitsansprüche führen. Zugleich sind etwa im Familiengüterrecht kleinteilige und von politischen Herrschaftsstrukturen tendenziell gelöste Lösungen bekannt, die von Dorf zu Dorf, ja von Hausnummer zu Hausnummer, unterschiedliches Recht schufen. Andererseits ist die Attraktivität einer geordneten und mit Blick auf die Senkung von Transaktionskosten besser abschätzbaren gerichtlichen Konfliktregelung nicht zu unterschätzen und führte dadurch zu Vereinheitlichungen, wenn sich etwa rechtlich exemte Gruppen wie Armenier in Städten des spätmittelalterlichen Polens freiwillig und ohne obrigkeitlichen Druck den deutschen Gerichten unterstellten, weil ihnen das für ihre Handelstätigkeit nützlich schien.
Im geltenden Recht ergeben sich fruchtbare Parallelen zur historischen Perspektive im inter- und transnationalen Bereich. Das internationale Recht ist nicht nur in diverse Regime fragmentiert, die je eigene Regelungsansprüche und Eigenlogiken verfolgen und zueinander in keinem hierarchischen Verhältnis stehen, sodass es bei überlappenden Anwendungsbereichen im Extremfall zu Regime-Kollisionen kommen kann. Es fehlt ihm auch vielfach an zwangsweisen Durchsetzungsmechanismen, weswegen es darauf angewiesen ist, in die je lokalen bzw. nationalen Kontexte implementiert zu werden. Gerade im Bereich der universellen Menschenrechte, also der nicht regional begrenzten Verträge, bedeutet dies immer wieder auch eine Transposition der gemeinsamen Normen in rechtliche „Dialekte“; es geht also um ein „translating human rights into the vernacular“ (Sally Engle Merry, Human Rights and Gender Violence, Chicago 2006). Dies gilt auch im Europarat, der mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über eine Instanz verfügt, die rechtsverbindliche Urteile fällen, einstweilige Anordnungen treffen und sogar Schadensersatz zusprechen kann. Der EGMR hat mit der margin of appreciation eine Form der Ambiguitätstoleranz für nationale Besonderheiten entwickelt, die es ermöglicht, in besonders umstrittenen Rechtsbereichen oder in Feldern besonders diverser Praxis Vielfalt zu ermöglichen, ohne auf gemeinsame menschenrechtliche Mindeststandards zu verzichten. Obwohl also eine gemeinsame Rechtsnorm angewendet wird, die eigentlich nicht mehrere Bedeutungen zugleich haben kann, wird damit eine Integration unvermeidbarer Vielfalt erreicht.
Ganz ähnlich wie in vormodernen Kontexten kann ein Vereinheitlichungsanspruch im internationalen Recht weniger auf Top-down-Durchsetzung als auf langfristige Prozesse der zunehmenden Normakzeptanz und Angleichung hoffen und lebt dabei zugleich – ähnlich wie imperiale Rechtsordnungen – auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, mit einem gewissen Maß an Pluralismus. Das folgt daraus, dass das „lokale“ (nationale) Recht nicht überall in seinen Tiefenschichten erreicht werden wird.
Ausgehend von diesem Aspekt lässt sich als Arbeitshypothese für die Typenbildung in der zweiten Phase formulieren, dass das Verhältnis von Einheit und Vielfalt jeweils dort eine ähnliche Rolle spielt, wo eine Vereinheitlichung nicht qua Machtmonopol durchsetzbar ist und in den Rechtsordnungen daher spezifische, machtferne Formen von Vereinheitlichung auftreten. Nachgelagert geht es dann um die Frage, wie Vielfalt handhabbar gemacht werden kann, wenn sich alle einschlägigen Regeln ohne Durchsetzungsautorität bilden und durchsetzen müssen.